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„Wir haben keine Tapeten“

Sonja, Mischa und Kolja leben in St. Petersburg auf der Straße. Die meiste Zeit jedenfalls. Denn siebenmal in der Woche trainieren die Kinder Kunststücke, mit denen sie auch auftreten. Seit sie beim Kinderzirkus Upsala sind, gehen sie auch wieder regelmäßig zur Schule. Eine Reportage

von PETER DAMMANN (Fotos) und CORNELIA GERLACH (Text)

St. Petersburg, Fontanka 40, Hinterhof. Eine neonbeleuchtete Armenspeisung für Kinder von der Straße. Eben noch hat Sonja an einem schäbigen Tisch in der Kantine gesessen und ihre letzten Pelmeni gelöffelt, da kommt eine Frau zur Tür herein. Astrid Schorn, Sozialarbeiterin. Sie fängt an zu jonglieren. „Hier wird nicht gespielt“, sagt der Kantinenaufseher mürrisch. Nur weg hier, denkt man. Irgendwohin, wo die Menschen lachen. Sonja reckt der jungen Frau das Sommersprossengesicht entgegen. „Nimm mich mit“, sagt sie. Zu Upsala, dem Straßenkinderzirkus.

Gemeinsam stapfen sie durch den Feierabendverkehr über den vornehmen Newski-Prospekt, dann nehmen sie die Metro. „Du bist müde, oder?“, fragt Astrid Schorn. „Ein bisschen“, sagt Sonja. „Ich hab bis heute morgen um acht im Computerclub gespielt. Mein Bruder hat mir Geld gegeben und gesagt: Geh.“ – „Wie alt bist du?“ – „Ich weiß nicht genau. Aber mein Bruder meint, ich sei elf.“ – „Kannst du lesen?“ – „Gaaanz langsam.“ – „Und was sind deine Pläne?“ – „Keine Ahnung. Aber heiraten werde ich nie. Männer sind blöd. Die sitzen in der Küche und trinken.“

Astrid Schorn ist 25. Sie hat in Berlin Sozialpädagogik studiert und kam als Praktikantin nach Russland. Sie wollte Straßenkindern helfen, fand aber keinen Zugang zu ihnen – bis sie mit ihrem Einrad an deren Treffpunkten herumkreiste. „Darauf haben die Kinder sofort reagiert“, erzählt sie. Dazu ein paar Bälle, Ringe, ein Diabolo – ein Kegel, der auf einem Seil tanzt, wenn man ihn richtig in Schwung bringt.

Astrid Schorn beschloss, einen Zirkus zu gründen, und organisierte über den Verein „Deutsch-Russischer Austausch Berlin e. V.“ Gelder. Und dann tauchten im richtiger Moment die richtigen Leute auf: Larissa Afanasjewa, eine Regisseurin; Galina Breus, Theaterdirektorin und Mutter von sechs Kindern; die Brüder Petja und Jaroslaw Metrofanow, zwei junge Akrobaten; und zwei junge Männer aus Deutschland. Mit 1.300 Euro im Monat hält sich die Gruppe über Wasser.

An einer Metrostation warten schon die anderen Zirkuskinder. Mischa, Kolja und dreizehn weitere trainieren siebenmal die Woche von fünf bis neun und haben alle naselang einen Auftritt. „Wir arbeiten als Artisten und nicht als sozialer Verein“, sagt Larissa Afanasjewa. „Ich will, dass die Kinder den Kopf heben und ihre Würde spüren. Mit der Nase im Dreck stecken sie oft genug.“

Die kleinen Artisten stürmen in ein Haus mit weiß gekalkten Säulen, vorbei an einer Concierge mit grauen Locken und hinauf in den ersten Stock zum Training. Hier hängen Fotos von Mondraketen an den Wänden. Wie heißt dieser Ort? „Weiß der Kuckuck“, sagt die Theaterdirektorin, „wir sind alle paar Wochen woanders.“

Es ist nicht einfach, Räume für die Kinder von der Straße zu finden – zumal, wenn man kein Geld hat. Mal fand der Hausherr, dass die Kinder stinken, mal störten sich die Nachbarn am Lärm. Zurzeit stellt die Militärakademie für Luftfahrt und Technik in ihrem Kulturklub einen Saal. Oben unter die Decke sind Helden wie Juri Gagarin gemalt, die aus dieser ehrwürdigen Institution kamen. Unten donnert das Springseil auf den Boden. Die Kinder kämpfen mit der Schwerkraft. Schnellen aus dem Liegestütz hoch. Springen ins Seil, springen raus, vorwärts, rückwärts, Handstand. Das alte Eichenparkett knirscht und federt.

Studenten in Uniform bleiben stehen, beobachten das Training. Skeptisch. Zirkus ist für sie staatlich geförderte Spitzenleistung, nicht diese Kombination aus Artistik, Theater und Spaß. Ein Offizier geht mit schnellem Schritt auf Larissa Afanasjewa zu. „Kein Chaos hier!“, befiehlt er. „Okay“, sagt sie. „Kein Chaos!“, wiederholt er. „Okay.“ Und noch mal. Da endlich kapiert sie. Steht stramm. Sagt zackig: „Verstanden.“ Der Offizier geht zufrieden seines Weges.

Ein Mädchen sitzt abseits, es mag nicht üben. Galina Breus setzt sich daneben, schweigend. Dann fragt sie. „Irgendwas stimmt nicht, oder?“ Das Mädchen sagt tonlos: „Ich habe gestern den Vater geschlagen. Zum ersten Mal. Mich gewehrt. Seine Zeit ist vorbei.“ Es hat lange gedauert, bis die Kinder anfingen, von zu Hause zu erzählen. Kein Wunder. Denn wer redet schon gern vom eigenen Vater, der in Afghanistan kämpfte, psychisch krank zurückkam und nun seit elf Jahren nur herumsitzt? Von Müttern, die sich mit miesen Jobs durchschlagen. Davon, dass man sich ausziehen muss bis auf den Schlüpfer und dann ans offene Fenster gestellt wird, zur Strafe, ohne dass man recht weiß, wofür und warum.

Larissa Afanasjewa sagt: „Die Kinder wissen, wohin sie schlagen müssen, damit es wehtut, sie kennen die wunden Stellen.“ Und werfen sich im Streit Sachen an den Kopf wie: „Du bist ein Prijut-Mädchen!“ Das heißt: Du wohnst in einem Asyl für obdachlose Kinder, deine Eltern haben dich verstoßen! „Und du? Wühlst im Müll und frisst Abfall!“ Und Sonja? Wie wohnt die? „Wir haben keine Tapeten“, verkündet sie stolz, „und keine Glotze. Macht nichts. Wir haben einen Wasserkocher für Tee.“ Sie gibt uns ihre Adresse. Nicht die der Mutter. Ihre eigene. „Kommt vorbei!“

Ein Altbau. Ein ramponierter Aufgang. Es riecht nach Pisse. Wir müssen ganz nach oben. Unter dem Dach liegt Schutt auf dem Boden. Es ist finster, keine Menschenseele rührt sich. Da klappt unten im Hausflur die eiserne Tür, drei Jungen rennen die Treppe hoch, versperren uns den Weg. „Ihr wollt?“ – „Zu Sonja. Sie hat gesagt, wir sollten nach Igor fragen.“ – „Igor? Das bin ich“, sagt der Größte. Ein schmaler Kerl in dicken Schuhen, 19 Jahre, rauchend. „Okay.“

Über dem Treppenhaus ist ein Verschlag. Igor schließt auf. Er schaltet das Licht an. „Entschuldigt“, sagt er und zieht die Decken glatt auf den Matratzen. Es gibt: zwei Lager; eine fahle Stubenlampe; Tigerbabybilder; einen Welpen, ein Geschenk von Sonja an Igor, und eine Tüte Milch, ein Geschenk von Igor an den Hund; einen Aschenbecher, voll; einen Tauchsieder, einen Topf, einen Kanister; Pappe vor den Fenstern. Ist es nicht kalt im Winter? „Ach“, sagt Igor, „das bin ich gewohnt. Ich lebe seit elf Jahren auf der Straße.“ Sie schlafen zu fünft hier oben.

Kurz drauf klappt die eiserne Tür wieder. Zwei Männer in Lederjacken stampfen durch den Schutt. „Wo ist Olga?“, fragt der eine frostig. Igor hält dem Blick stand. „Gegangen“, sagt er, „heute Morgen.“ Der andere droht: „Sag ihr, dass ich sie suche. Sonst geht’s dir schlecht.“ Die zwei verschwinden.

Und Sonja? Wo ist die? „Spazieren“, erklärt Igor. Draußen fallen klebrige Schneeflocken vom Himmel, so nass, dass sie tauen, bevor sie irgendwo landen. Kein Mensch geht freiwillig auf die Straße.

Trotzdem, auch Astrid Schorn und Larissa Afanasjewa drehen noch eine Runde. Zum Moskauer Bahnhof, einer hohen, glatten, blitzblank gefegten Halle. Vom Deckengemälde winken Lenin und die rote Fahne. Reisende stehen in Gruppen. Ein Junge lehnt an einer Wand und träumt. Kolja. Steht Schmiere. Larissa Afanasjewa schleicht sich an. Stupst ihn. Sein Gesicht strahlt vor Freude, aber nur einen winzig kleinen Moment, dann wird er verlegen. Und dann hart, arrogant, rotzig. Seine Augen werden stumpf und kalt. Im Bahnhofsrestaurant an den Glückspielautomaten hängen Mischa und seine Freunde. Sie sind überhaupt nicht davon erbaut, dass sie ertappt sind.

Es kommt immer noch vor, auch nach anderthalb Jahren im Zirkus, dass irgendwann die Verlockungen der Straße siegen. „Mit dreizehn stellen sich bei den Straßenkindern die Weichen“, sagt Astrid Schorn. „Dann fühlen sie sich zu alt, um Kleber zu schnüffeln. Entweder steigen sie dann auf harte Drogen um. Oder sie kriegen die Kurve.“ Fast alle Upsalas gehen wieder regelmäßig zur Schule. Ihre Freunde von früher leben das alte Leben weiter.

Am nächsten Tag wartet Sonja schon an der Kantine. Sie hat Ira im Schlepptau, angeblich ihre Kusine. Und während ein paar Kinder in Fleischklops mit Ketchup stochern, führt sie Kunststücke mit dem Diabolo vor. Danach zeigt uns Sonja ihre Wohnung. Diesmal geleitet sie uns persönlich. Sie legt Wert darauf. Igor ist auch wieder da. Und Olga, das Mädchen, das die finsteren Gestalten gestern gesucht haben. Vierzehneinhalb Jahre. Schwanger. „Sie gehört zu mir“, sagt Igor, „auch wenn der Typ meint, sie sei sein. Dem habe ich es gestern noch gezeigt, auf dem Moskauer Bahnhof, ich schwör’s euch, der lässt sich hier nicht mehr blicken.“ Nur weg hier, denkt man. Auf zum Zirkus.

Wir laufen durch die Stadt und lassen uns mit den Massen auf der Rolltreppe abwärts in den Metroschacht spülen. Diesmal erzählen die Betreuerinnen Lügengeschichten. Dass sie Läuse hätten. Kopfläuse und Kleiderläuse. „Wir müssen auf dem Weg zum Zirkus noch zum Arzt.“ „Gut“, sagen Sonja und ihre Kusine. „Wir kommen mit.“

Ein paar „Med-Punkte“ gibt es, medizinisch-psychologische Stützpunkte für Kinder auf der Straße, zum Beispiel von „Médecins du Monde“. Hier kann kommen, wer will, ohne sich viele Fragen anhören zu müssen. Kann sich untersuchen lassen – Aidstest, Hepatitis, Tuberkulose. Mädchen finden hier eine, die sie zum Frauenarzt begleitet. Und alle finden jemand mit einem offenen Ohr. Wir müssen warten. Sonjas Kusine wird entlaust, das Zeug muss wirken.

Larissa Kusmina ist Sozialarbeiterin für Médecins du Monde. Sie ist eine der wenigen, die auf der Straße unterwegs sind und die Kinder auf ihrem eigenen Terrain betreuen. Wir sitzen in ihrem engen, neonbeleuchteten Büro und hören sie reden. Wie ein Wasserfall. Sie erzählt von den Jungen, die sich im kleinen Park unter dem Standbild von Katharina der Großen rumtreiben. Stricher, für ein paar Rubel oft grausam gequält. Und von dem Mädchen, das sie heute traf. Sie ist vierzehn. Sie ist bei der Metrostation Pionierskaja zu zwei Männern in ein Auto gestiegen; die haben sie brutal vergewaltigt. Jetzt liegt sie im Krankenhaus. Das Mädchen hat ihr seine Wunden gezeigt. Wie eine Heldin ihre Narben. Nur weg hier, denkt man. Auf zum Zirkus.

Die Upsalas sind schon beim Aufwärmtraining, als wir kommen. Laufen, strecken – jede Muskelgruppe einzeln. Die Mädchen üben Äquilibristik, die Jungen kämpfen mit dem Salto rückwärts. Dann schleppt Petja, der Trainer, Sonja auf die Bühne. Sie zappelt. Weiß nicht, ob sie neugierig sein oder fliehen soll. Petja hebt sie hoch, wirbelt sie duch die Luft, setzt sie sich auf die Schultern. Das Mädchen sucht die Balance, findet sie, öffnet stolz die Arme. Dann reicht es ihr, sie will weg. Petja packt sie am Arm. „So nicht“, sagt er, „verbeug dich.“ Er nimmt sie bei der Hand. Die beiden klappen die Oberkörper nach vorn, die Nase prallt ans Knie. Die Kinder klatschen. Als Sonja den Kopf hebt, ist er knallrot.

Wo ist eigentlich Kolja? Galina Breus läuft los, zum Moskauer Bahnhof, und kommt allein zurück. „Sagt Kolja“, gibt sie Mischa mit auf den Weg, „wenn er morgen nicht zum Training erscheint, dann kann er das mit dem Artistsein erst mal vergessen.“

Am nächsten Tag steht Kolja wieder auf der Matte. Er ist zerknirscht und sogar bereit zu reden. „Kolja, was gefällt dir am Zirkus?“ – „Alles.“ – „Und was gefällt dir am Moskauer Bahnhof?“ – „Nichts.“ – „Warum bist du dann da?“ – „Das weiß ich auch nicht“, sagt er. Springt auf die Bühne und lässt die Ringe fliegen.

Für den Kinderzirkus Upsala ist ein Spendenkonto eingerichtet worden. Verein Perspektiven e. V., Kennwort „Upsala-Zirkus“, Berliner Volksbank, BLZ 100 900 00, Konto-Nr. 5255 900 007. Kontakt: upsala-zirk@peterlink.ru. Weitere Informationen unter www.austausch.com PETER DAMMANN, geboren 1950, lebt in Bern und Hamburg. Bevor er zur Fotografie kam, arbeitete er zehn Jahre als Sozialarbeiter. Seine Fotoreportagen entstehen häufig in Osteuropa und Asien. Seit zwei Jahren arbeitet er für die Fotoagentur LookatCORNELIA GERLACH, 42, lebt als freie Autorin in Berlin, sie schreibt vor allem Reportagen

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