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Air Mehdorn bleibt am Boden

aus der Bahn THOMAS GERLACH (Text)und ROLF ZÖLLNER (Fotos)

Die letzte tröstliche Weisheit der alten Zeit kam am Sonnabend kurz vor Mitternacht auf dem Berliner Ostbahnhof zur Welt: „Ich sag mal: Gefahren wird immer.“ Die Dienst habende Dame vom Servicepoint richtet mit dieser Wahrheit einen alten Herrn auf, der, von der Umhängetasche gebeugt, vor der Theke aus Schieferimitat steht wie zum Empfang des Abendmahls. Es gibt aber nichts. Der Alte hätte gern noch die alte Bahncard empfangen, doch das Reisezentrum schräg gegenüber war planmäßig um elf geschlossen worden, und es war wohl alles auch nicht schön, wie die Dame im blauen Kostüm versichert. Wie sich das Volk drängelte, um noch die alte Karte zu ergattern, und wie es dann laut wurde und wogte. „Die sollen ja dann von Frankfurt aus einfach das Computernetz abgeschaltet haben“, sagt die Frau und empfiehlt die neue Bahncard. Nach der Weisheit kommt die Willkür.

Der Alte dreht ab und schleicht auf Halbschuhen durch die spiegelglatte Bahnhofswelt mit ihrem rot behängten Himmel und den Hand- und Fingerzeichen, mit denen man früher in der Bahnhofskneipe Bier und Schnaps bestellt hat – ein Fremder, bestenfalls ein Gast in einer Welt aus Stahl, Glas und imitiertem Schiefer. So einer fuhr noch mit Dampfloks auf allen Reichsbahnstrecken und kaufte eine Sonntagsrückfahrkarte, jetzt übersetzt er das Rabattchinesisch, Punkt 5, stöhnt leise: „Kinder muss man haben!“, und verschwindet hinter der Automatiktür in die Nacht. Die erste Weisheit der neuen Zeit. Es ist 0.04 Uhr, der Regionalexpress nach Frankfurt (Oder) rollt ein, der erste Zug der neuen Zeit. Der zweite Richtung Jüterbog fällt aus – planmäßig. Die Bahn hat einige Züge in dieser Nacht vorsichtshalber gestrichen. Ein Bürschchen mit Zickenbart, das den neuen Fahrplan studiert, kann nun zusehen, wie es in die brandenburgische Pampa kommt.

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Den Interregio gibt’s nicht mehr. Der Intercity 2101 von Berlin nach Frankfurt am Main war zwar gestern auch ein IC, trotzdem fährt er mit „umgewidmeten“ InterRegio-Wagen gen Hessen. Knapp sechs Stunden auf harten Sitzen – so etwas vertragen nur deutsche Beamte. Am Sonnabend haben sie für den Deutschen Beamtenbund in der Hauptstadt demonstriert, am Sonntag wollten sie mit dem ICE nach Hause. „War aber alles schon ausgebucht.“ Ein hessischer Beamter mit Hirschhornknöpfen an der Lederweste klagt. Fast einen ganzen Waggon haben die vierzig Mitglieder des Beamtenbundes daraufhin gemietet. Die Skatkarten sind ausgepackt, das erste Bier ist geöffnet, da knistert der Lautsprecher: „Das Bordbistro ist heute leider nicht für Sie geöffnet aufgrund einer kurzfristigen Krankmeldung.“ Ein ganzer Zug nimmt Anteil am Schicksal eines Eisenbahners.

Eine Rentnerin, eingehüllt im Fuchspelz, hat die Bahn eben noch gelobt. Für 66 Euro nach Frankfurt! Wo gab es das schon? Und für Stella habe sie gar nichts bezahlt. Aber nun? Jetzt lauscht sie zur Decke. „Kein Kaffee, kein Wasser?“ Stella schaut aus der Tasche. „Am besten, du schläfst bis Frankfurt durch.“ Yorkshireterrier kosten nichts. Die Bahn hat Wort gehalten: Kinder bis 14 fahren mit ihren Eltern kostenlos mit.

In Halle an der Saale, Bahnsteig drei, geraten die Sentenzen der Bahn aneinander. „Die neue Art, zu reisen – InterRegio“. So lädt das „Unternehmen Zukunft“ auf einer Bahnsteigbank ein, auf der Banklehne nebenan wirbt es mit „Einfach schöner reisen – InterCity“. Die eine Bank ist umgewidmet, die andere noch nicht. Diesen Zauber sehen hinter ihren Fenstern vierzig übewiegend pensionierte Beamte und eine alte Frau im Pelz, bevor sich der IC 2101 lautlos und ganz langsam davonschleicht, als wolle er die Fahrgäste möglichst lange hypnotisieren, so dass keiner die zehn Minuten Verspätung bemerkt.

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Der Regionalexpress Halle–Leipzig fährt korrekt, pünktlich und mit dem nötigen Geräusch, doch ein Mann im Oberdeck ist dennoch verstimmt. Herr Meusel kommt aus Meiningen und hat auf Gesprächspartner dringend gewartet. Er trägt eine Baskenmütze, hat einen runden Bauch, ein rundes Kinn und sorgfältig gekräuselte Tränensäcke, und er ist klein. „Das ist lauter Schwindel, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, sagt er mit weicher, gekränkter Stimme und fängt an. „Für Besitzer der neuen Bahncard wird alles fünfzig Prozent teurer.“ Die Karte selbst sei billiger, aber für jede Fahrt müsse man die Hälfte mehr bezahlen. „Das sagt keiner von der Bahn.“ Herr Meusel ist kurzatmig.

Der Schaffner kommt. „Sagen Sie mir doch bitte, wie lange die Fahrscheine gültig sind“, flötet Herr Meusel. „Bei mehr als hundert Kilometern vier Tage“, sagt der Kontrolleur in nachtblauer Uniform. „Nur zwei Tage! Ich zeig's Ihnen, ich komme aus Meinigen“, kontert Meusel. „Vielleicht ist Meiningen gar keine hundert Kilometer entfernt?“, versucht sich der Eisenbahner zu retten. „Zweihundertfünf!“, sagt Meusel scharf und zeigt den Fahrschein. Er ist zwei Tage gültig. „Stellen Sie sich vor, da kauft jemand einen Fahrschein und vertraut darauf, dass er wie früher vier Tage gültig ist? Und was ist, wenn er ihn umtauschen will?“ – „Ja, dann hat sich das heute geändert“, kapituliert der Schaffner und zieht von dannen. „Das war eine Vorführung“. sagt zufrieden Herr Meusel, schickt dann deprimiert hinterher: „Der ist ja dermaßen hart, der Mehdorn“, und blickt aus dem Fenster.

Draußen hängt ein matter Sonnenball über grünender Saat, Autos huschen am Horizont vorüber. „Dort drüben ist das Schkeuditzer Kreuz, ältestes Autobahnkreuz, neunzehnhundertsechsunddreißig.“ Herr Meusel ist kein Autofahrer, sondern er ist Pessimist, weil er von den Bahnfahrern einer der eifrigsten und treuesten ist. Doch ob er jemals „bahn.comfort“-Kunde wird, um dann im Leipziger Hauptbahnhof in der DB-Lounge zu relaxen, ist fraglich. Herr Meusel gehört zu den Menschen, die möglichst gut und preiswert von A nach B gelangen wollen, und heute hat er 55,50 Euro bezahlt, und das ist mehr als beim letzten Mal. Mit einer Zahlenfolge verabschiedet er sich: „Fünf, zwölf, fünfzehn, fünfundfünfzig Mark und jetzt achtundzwanzig Euro.“ Kurzer Blick. „Das sind die Preiserhöhungen des Schönen-Wochenend-Tickets.“

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Im Servicepoint des Leipziger Hauptbahnhofs wird heftig geblättert. „Verbindungen mit Umsteigen kann ich Ihnen nicht sagen! Ich komm nicht ins Internet rein!“, rufen zwei Frauen wieder und wieder, die Schlange löst sich trotzdem nicht auf. „Gehen Sie bitte zu den Fernverkehrsautomaten oder in das Reisecenter!“ Im Dämmerlicht des Computerbildschirms blättern die beiden in Fahrplänen herum, es sieht aus wie eine Prüfung. Bis gestern konnten sie die Verbindungen im Schlaf singen, heute haben sie neue Noten und einen neuen Text. Und keiner hat geprobt. Da könnte der Weihnachtsmann Mitleid bekommen, doch der hat gerade seine tägliche Sprechstunde auf dem Querbahnsteig und ist selber ratlos: „Es ist komisch, dass die Kinder, die zum Weihnachtsmann kommen, sich so nach vorne drängeln. Wenn sie dann aber hier oben stehen, ist auf einmal Sendepause.“

Nein, von der Bahn könnte das keiner behaupten. Sie hat das gemacht, was sie angekündigt hat. Die Züge rollen. In Frankfurt befreien sich zur Stunde einundvierzig Hintern von umgewidmeten Sitzen, und der ICE 1516 hat zwischen München und Hamburg auch mit dem neuen Preissystem nicht abgehoben. Die „Air Mehdorn“ bleibt am Boden. Und in Berlin-Ostbahnhof funktionieren sieben von neun Fahrkartenautomaten nicht. Es ist eigentlich alles wie immer.

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