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Ein ausgekochter Mikrokosmos

Imbiss Hohnke rollt seit 25 Jahren an der Danziger Straße Rouladen per Hand. Weil Kunden fehlen, schließt nun die Privatkantine aus DDR-Zeiten

„Prädikat ‚gut‘ in Speiseverarbeitung und Verpflegung“

von HENNING KRAUDZUN

Ein kleiner Schritt nur durch den metallenen Türrahmen, und schon ist man wieder zurück im Osten. Hier, im Imbiss Hohnke in der Danziger Straße 61, scheint die Zeit eingefroren zu sein. An der Einrichtung hat sich seit einem Vierteljahrhundert fast nichts verändert. Allein der wuchtige Glastresen versprüht eine westliche Aura und könnte aus dem Gastronomiekatalog bestellt worden sein. Auch in der Küche wurde einiges modernisiert – neue Zeiten, neue Vorschriften. Aber der Gastraum davor lässt Erinnerungen wieder wach werden.

Viele Relikte aus der Arbeiter- und Bauernära erkennt man auf Anhieb wieder. So die wackligen Sprelakat-Stahlrohr-Tische, die von verstaubten Plastikblumen bekrönt werden. Die abgewetzten Holzstühle sind die gleichen Möbel, wie sie in jeder kleinen DDR-Kaschemme herumstanden. Der komplette Raum ist holzgetäfelt, von der Decke hängen jene heimattümelnde Lampen, die zumindest im Osten begehrt waren. Über der Tür zur Küche verrät ein Meisterbrief mit Hammer und Sichel: „Prädikat ‚gut‘ in Speiseverarbeitung und Verpflegung“. Selbst der große Kaktus am Fenster ist mit der Kantine gewachsen: „Kurz vor der Einweihung hab ich mir einen Steckling besorgt“, erzählt Achim Hohnke, der Chef.

Ginge es nach ihm, würde er noch ein paar Jahre für das umliegende Kiez kochen, doch mittlerweile stirbt die Kundschaft aus. Am 20. Dezember ist deshalb sein letzter Arbeitstag, ein Mikrokosmos hört auf zu existieren. Zusammen mit seiner Frau, der Tochter und dem Schwiegersohn wird er dann noch einmal in aller Herrgottsfrühe aufstehen und sich an den Herd stellen. Die bekannten Gäste werden zu ihren gewohnten Zeiten vorbeikommen, viele von ihnen begrüßt Achim Hohnke per Handschlag. Ein paar neue Gesichter sitzen zwar immer an den Tischen, aber die Kundschaft reicht gerade noch für die monatlichen Kosten.

Auch nachdem der Fastfood schon längst seinen Siegeszug vollendet hat, wird bei Hohnkes alles frisch zubereitet, die Kartoffeln geschält, Rouladen gerollt und Soßen gerührt. Doch das Grundprinzip des Ladens wurde zum marktwirtschaftlichen Stolperstein. Ein Schild gleich neben dem Eingang erklärt jedem Gast einen Anspruch, der heute nahezu romantisch wirkt: „Hier läuft das Essen nicht vom Band, hier kocht man noch mit Herz und Hand.“ Viele Alteingesessene blieben der Privatkantine deshalb bis heute treu.

So wie Gerda Senst. Sie kommt seit ihrer Pensionierung regelmäßig her und schwört auf die hausgemachten Suppen. Gerade trägt sie eine Karottensuppe an den Tisch, wo schon ein junger Mann sitzt. Sie mustert ihn kurz und wünscht „Guten Appetit!“ Der schreckt vom Zeitungslesen auf und erwidert die Höflichkeit. Später setzt sich noch ein dickleibiger Handwerker zu den beiden und grummelt „Mahlzeit!“ Ein kurzer Smalltalk, und schon widmet sich jeder seinem Essen. Drei Generationen sind an einem Tisch vereint.

Täglich steht ein anderes Gericht mit Kreide an der Tafel geschrieben, ausschließlich die Klassiker der Ostküche. Jeden Montag gibt es Wurstgulasch, die anderen Tage Königsberger Klopse, Hühnerfrikassee, Paprikaschoten, Blutwurst oder auch mal gebratene Nieren. Exotische Dinge haben hier keine Chance. Das Hauptgericht kostet immer 3 Euro 50 – ein Festpreis seit Jahren. „Das ist die absolute Schmerzgrenze, wenn man noch davon leben will“, sagt Hohnke. Seit drei Jahren hat die Familie keinen Urlaub mehr gemacht.

In den Jahren vor dem Fall der Mauer haben die Leute noch bei ihm angestanden, bis zum Blumenladen nebenan. Dort regte sich jeden Tag die Verkäuferin auf, weil die Schlange die Sicht auf ihr Schaufenster versperrte. Heute wäre sie froh, wenn er bleiben würde, immerhin fallen um die Mittagszeit auch ein paar Kunden für sie ab.

Doch jetzt ist bei Hohnke nur noch der Laden voll, wenn Anfang des Monats die Renten ausgezahlt oder die Arbeitslosengelder überwiesen werden. „Sonst kommen ja auch die unterschiedlichsten Gäste, aber das reicht nicht“, sagt der 66-Jährige. Die Zeiten für eine Kantine, die ohne öffentliche Zuschüsse auskommen muss, sind nicht die besten.

Einfach aufhören – diesen Entschluss hat auch das monatelange Hickhack um die Verlängerung des Mietvertrages bestärkt. Nachdem die Wohnungsgesellschaft WIP zwölf Jahre lang das Haus verwaltete, wurden erst kürzlich die Erben ausfindig gemacht. Die streiten um die Immobilie, und ihr Verwalter verschreckt die Mieter mit ständig neuen Hiobsbotschaften. Die Unarten des Westens haben letztendlich auch ihn erreicht. „Diese Unsicherheit macht letztendlich keinen Sinn mehr“, sagt Hohnke. Wenn er aufhört, wird die Kantine endgültig aus dem Straßenbild verschwinden und ein Stück Osten mit ihr. Ein Nachfolger hat sich bislang nicht gemeldet.

Eigentlich müsste Hohnke traurig sein, doch bei ihm ist Erleichterung zu spüren. „Immerhin habe ich mir jetzt eine längere Pause verdient“, sagt er. Seit den Sechzigerjahren hat er verschiedene Restaurants und Großküchen geleitet, war sogar Küchenchef im edlen Lindenkorso in der Friedrichstraße. Mit den Erfahrungen ausgestattet, wollte er sich damals etwas Eigenes schaffen. Und im Osten war nichts schwieriger, als sich selbstständig zu machen. Doch die heutigen Zeiten brächten viel mehr Probleme, sagt Hohnke. Grund genug, auch einen Mikrokosmos aufzugeben.

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