„Kleine Verbindungen“

Tim Berners-Lee hofft, dass seine Erfindung des World Wide Web ein offenes System der Meinungsfreiheit und der Bürgerrechte bleibt. Auch wenn es kommerziell genutzt wird, kann es dem Frieden und dem Verständnis fremder Kulturen dienen

Interview NIELS BOEING

taz: Neulich sind Sie wieder einmal für die Erfindung des World Wide Web ausgezeichnet worden, diesmal mit der Marconi Fellowship. Wie fühlt sich das an, immer wieder damit konfrontiert zu werden, etwas Historisches vollbracht zu haben?

Tim Berners-Lee: Es ist schon eigenartig. So müssen sich Kronprinzen fühlen, die ihr ganzes Leben lang hören, dass sie etwas Besonderes sind. Ich dagegen habe mein halbes Arbeitsleben als Entwickler verbracht. Mir ist bewusst, dass das, was ich getan habe, jeder hätte tun können. Die Idee des World Wide Web herauszubringen war, als ob man ein Streichholz in eine Scheune wirft, die voll Stroh ist. Es war nur der erste Akt. Das Web hat sich ausgebreitet, weil viele Individuen kräftig mitgeholfen haben, dass es angenommen wird. Nehmen Sie Paul Mockapetris. Er schrieb das Protokoll, das das Domain-Name-System zum Laufen brachte …

das es ermöglicht, Webserver zu benennen und zu finden.

Dieses System ist der Kern der Internettechnik, und alles andere baut darauf auf. Aber es wird nicht so gefeiert, obwohl es das verdient hätte. Die Leute sehen eben nur HTML. Klar, jeder spielt eine andere Rolle. Ich bekam die des „Erfinders des WWW“. Das ist einfach nur meine Rolle.

Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade am Web knüpfen?

Ich habe eine Familie, und ich bin gern draußen in der Natur. Mit einem Kajak oder einem Kanu. Solche Sachen eben. Ich wandere gern.

Fällt es Ihnen schwer, von der Entwicklungsarbeit abzuschalten?

Ich liebe es, nachzudenken, aber ich bin am liebsten im Wald oder auf einem Berg, selbst wenn ich über Entwicklungskram brüten muss. Den ich im Übrigen aufregend finde. Arbeit ist für mich keine Mühsal, vor der ich fliehen möchte.

Wir sitzen hier in New York zusammen. Vor zwei Jahren war das noch die Hauptstadt der New Economy. Jetzt ist es Symbol einer neuen, ungewissen Epoche, die mit den Anschlägen auf das WTC begann. Ist das Internet überhaupt noch so wichtig wie vorher?

Wissen Sie, das Internet ist im Großen und Ganzen nur ein Spiegel des Lebens. Wenn Ihr Provider kontrollieren kann, welche Seiten Sie zu sehen bekommen, kann er Ihnen seine Sicht der Dinge aufpfropfen. Wenn das Internet aber offen bleibt, sollte ein intelligenter Mensch schon in der Lage sein, das Leben in anderen Ländern wahrzunehmen.

Viele Menschen in der Dritten Welt haben allerdings noch keinen Internetzugang. Die können sich nicht einfach einloggen und die Welt entdecken. Dazu kommen Sprachbarrieren und kulturelle Hindernisse. Alles Missstände, die angegangen werden müssen. Das Internet darf nicht zu einer bestimmten Sprache und Kultur neigen.

In Regionen mit historischen Konflikten könnte es sehr wirkungsvoll sein: Man zeigt jemandem, der auf der einen Seite lebt, das Leben auf der anderen Seite der Konfliktlinie, was in der Realität sehr schwierig ist. Ich glaube, viele Menschen hoffen, dass das Netz in diesem Sinne lebensnäher wird, zurück auf den Boden der Tatsachen kommt: indem es solche kleinen Verbindungen ermöglicht. So wie das bei den Partnerstädten in Europa funktioniert. Letztlich wird es Frieden nur geben, wenn er von unten aufgebaut wird. Von den Graswurzeln der Gesellschaft.

Also kann die Technik des Internets allein keinen Frieden schaffen?

Nein, Technik kann nur helfen, Frieden zu schaffen, indem sie Menschen verbindet. Das Besondere sind aber die Menschen. Einerseits lässt das Internet die Welt näher zusammenrücken. Andererseits fürchten viele, dass Terroristen es für ihre Zwecke missbrauchen. Natürlich kann Technik immer so oder so genutzt werden. Wenn Sie Kryptografie- oder Datenschutzgesetze nehmen, werden Sie feststellen, dass es Alternativen gibt. Es liegt in unserer Entscheidung, ob eine Website von vornherein mit den Userdaten machen kann, was sie will. Das Ganze ist nicht einfach Business as usual. Das Web ändert die Lage entschieden.

Das Gleichgewicht zwischen dem Recht auf Datenschutz und auf freie Meinungsäußerung und der nationalen und internationalen Sicherheit ist so eine Entscheidung, die wir treffen müssen. Andererseits sind einige technischen Möglichkeiten, wie die Leichtigkeit, mit der man Personendaten sammeln kann, oder die Schwierigkeit, einen kryptografischen Code zu knacken, von der Welt des Telefons und des Briefverkehrs weit entfernt. Die Gesetze, die diese regeln, müssen so verändert werden, dass die Balance in dem neuen Kontext wieder stimmt.

Die Regierungen mischen sich heute mehr als früher ein.

Ja, ich sehe einen wachsenden Druck von Regierungen, der mit der Gefahr einhergeht, persönliche Freiheiten und Rechte zu missbrauchen. Das ist leider wahr. Einige Grundrechte müssen unbedingt geschützt werden, denn es geht um die Verteidigung der Freiheit. Das Copyright ist ein weiteres Problem. Die Verlängerung des Urheberschutzes in den USA ist von großen Konzernen durchgedrückt worden. Ich glaube nicht, dass irgendjemandem damit geholfen ist, dass das Copyright auf 75 Jahre ausgedehnt wurde. Denn für den akademischen Fortschritt und die Kultur überhaupt ist es enorm wichtig, dass es ein umfassendes Repertoire von großartigem Material gibt, das die Menschen frei nutzen und zitieren können. Würde Goethe heute leben, hätte er seine Gedichte nach den neuen Regeln für elektronische Medien an irgendein Hollywood-Studio lizenziert. Dann müssten Sie jedes Mal zahlen, wenn Sie ihn zitieren wollen. Das ist die Richtung, in die die neuen Gesetze gehen.

Kann das World-Wide-Web-Konsortium solche Entwicklungen abwehren?

Das W3C kümmert sich in erster Linie um die Technik. Aber es muss dabei gesellschaftspolitisch sehr wach sein. Mit einer Technologie wie P3P, die inzwischen den Status einer offiziellen Empfehlung hat, können Sie eine maschinenlesbare Datenschutzerklärung auf ihren Server stellen, wo sie automatisch vom Browser des Nutzers gecheckt wird. Sie sollten das ausprobieren! Das ist eine der Sachen, die das W3C gemacht hat. Man kann keine Technik entwickeln und dabei die Augen vor den gesellschaftlichen Fragen schließen.

In Ihrem Buch „Der Web-Report“ zeigen Sie sich ein bisschen verwundert, wie kommerziell das Web geworden ist. Sind Sie enttäuscht?

Nein. Enttäuschend finde ich, wenn Firmen versuchen, die Kontrolle über das Web zu übernehmen. Dinge wie Pop-up-Fenster, die aus dem Browser herauskommen und sich des Desktops bemächtigen. Das geht einfach zu weit. Oder Spam, wo der Email-Header gefälscht ist – das ist ein Missbrauch der Internetprotokolle. Andererseits ist es sehr vernünftig, das Web auch kommerziell zu nutzen. Es soll ja ein universeller Raum sein, da kann man nicht irgendein Gebiet ausschließen.

Viele fragen mich: Bist du nicht enttäuscht, dass es so viel Unsinn im Web gibt? Aber niemand ist verpflichtet, das alles zu lesen. In einer Bücherei gibt es ja auch viele Bücher, die man nicht lesen will. Wenn Sie die Straße entlanggehen und ein Windstoß plötzlich einen Zeitungsfetzen aufwirbelt, greifen Sie nach ihm und lesen ihn? Natürlich müssen Sie in jedem Medium aufpassen, welchen Informationen Sie trauen. Es gibt großartige Sachen im Web. Aber nur weil es kommerzielle Seiten gibt, gibt es nicht automatisch weniger nichtkommerzielle.

Mir scheint, dass es zwei Kulturen im Netz gibt, eine frei zugängliche der Enthusiasten und eine kommerzielle.

Haben Sie „Die Kathedrale und der Basar“ von Eric Raymond gelesen?

Ja.

Das ist es, was Sie meinen. Es gibt diese zwei Kulturen: Die Kathedralen$richtung …

in der hunderte Entwickler eines Unternehmens an einem Produkt bauen, das nicht offen ist …

… und die Basarrichtung …

in der viele gemeinsam und lose organisiert an einem neuen, offenen System werkeln. Das ist das Open-Source-Prinzip.

Die Netzentwickler sind allerdings nicht in zwei Lager gespalten. Eher befinden sie sich irgendwo zwischen diesen Polen. Nehmen Sie Hewlett-Packard als Beispiel. Die sind große Verfechter von Open-Source-Software. Sie glauben ebenso wie Sun Microsystems daran, dass Internetstandards gebührenfrei sein sollten. Gleichzeitig sind sie ein Unternehmen, das Produkte verkauft. Ihre Ingenieure sind Teil einer lebhaften Open-Source-Community, deshalb haben sie sehr gute Verbindungen in die akademische Welt und kommen an hervorragende Ideen, die sie in ihre Produkte einspeisen können. Es ist ja nicht so, als ob man plötzlich nicht mehr Teil der weltweiten Entwicklergemeinde wäre, nur weil man für ein Unternehmen arbeitet.