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Warten auf die Wahrheit

Meinhard Rohr zur Lage der Weihnachtsnation im Spiegel seines Wissens

17 Uhr. Heute werde ich einmal nicht die Lage der Nation, der Gesellschaft, der Welt kommentieren. Heute ist Heiligabend. Auch wenn ich mir sonst nichts aus diesem Fest mache, es schon länger nicht mehr feiere und zelebriere. Jetzt habe ich aus Vorfreude eine Flasche Rotwein geöffnet. Es ist alles bereit. Sie können kommen. In der Küche warten Hühner, Enten und Gänse auf die Gäste. Und es werden viele sein. Ich habe viele gute Freunde. Alle, die ich als Montagskolumnist im Laufe der Jahre durch die Wahrheit kennen, schätzen und lieben gelernt habe: Wenzel Bauer, der bekannte Weltwetterkorrespondent, der stets lausige Anekdoten von den ödesten Orten der Erde erzählt; Horst Halbe, der Kühlschrankwart der Wahrheit, der für mich immer ein warmes Getränk bereit hält; Heribert Lenz, der völlig zu Unrecht einen Ruf als Gewaltmensch genießt; Raimondas Rodauskas, der litauische Nationaldichter und glühende Hühnerfreund, der nach der Buchmesse in Deutschland eine neue Heimat fand; und all die anderen Mitarbeiter der Wahrheit. Darauf erhebe ich das Glas: Salut, Cheerio und Prosit. Es herrsche Friede auf Erden. Oder wie der Lateiner zu sagen pflegt: pax deum – Friede für einen Tag.

18 Uhr. Die Vorfreude lässt mich glühen. Oder ist es der Rotwein? Der ist ja schon wieder alle, leer und am Ende. Damals 1968, als ich leider noch zu den Linken gehörte, feierten wir noch oft Weihnachten. Manchmal mehrmals im Jahr. Aber mit dem Beginn der Spaßgesellschaft war das Ende der Weihnacht programmiert, projudiziert und prognostiziert – und zwar von mir. Nicht von Habermas, meinem ersten Lehrmeister. Der alte Schwede verstand keinen Spaß. Als ich einmal sein trockenes Essay „Am Ende des Regenbogens steht die Zukunft“ mit dem gewagten Aufsatz „Die Zukunft des Regenbogens steht am Ende“ toppte, wollte er mich aus dem Hörsaal weisen. Nicht mit mir. Ich ging zuerst.

19 Uhr. Noch keiner da. Wo bleiben sie nur? Die Hühner, Enten und Gänse werden langsam kalt. Kalt wie Berlins neue Mitte. Ein Grappa zum Aufwärmen, Warmhalten, Erwärmen der klammen Gedanken kann nicht schaden. Ach, gleich zwei. Bitternis, Einsamkeit und Lonelyness vertreibt der silberne Italiener immer noch am besten. Vor allem an Heiligabend. Draußen pfeift der Wind, drinnen die Seele. Da! Endlich! Es klingelt an der Tür! Es geht los …

20 Uhr. Es war nur der Pizzabote, der sich in der Adresse geirrt hatte. Wo ist der Rotwein? Es ist mir gar nicht mehr nach vielen Worten, Wörtern und Wendungen. O yeah, diese hippen Alliterationen. Wann habe ich eigentlich mit dieser verfluchten Scheiße angefangen? Und erst diese rhetorische Trias: Immer drei synonyme Worte finden und zu einem pathetischen Schmu aneinanderreihen. Ich mus pinkeln, pieseln, pissen …

21 Uhr. Grappa ins Rotweinglas gefüllt. Wie der französische Philosoph Marcel Reich-Ranicki einmal … – zur Hölle, warum zitiere ich bloß immer diesen Pseudobildungsmist? Ach, ich geb’s auf. Es kommt sowieso keiner mehr. Ich geh nach draußen, in die Nacht, die Berliner Mitte. Öch ne, lieber noch ’nen warmen Roten. Wenn ich draußen rumlauf, schreib ich sowieso nur über Trends, Trends, Trends. Interessiert doch keine Sau. Wie meine Montagskollekte … Quatsch, -kolumne … überhaupt nich’ interessant. Niemand kommt. Niemand liebt mich. Niemand braucht mich. Ich weiß das, ihr Schweiiiiine da draußen. Steckt euch eure Weihnacht …

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