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Diplomat in deutschen Diensten

Teilung, Vereinigung, Wiedergutmachung. Wenige haben die jüngeren deutschen Zeitläufte so nah miterlebt wie Hans-Otto Bräutigam. Nun zieht sich der Ständige Vertreter, der Minister und Vorsitzende der Zwangsarbeiterstiftung ins Private zurück

von MATTHIAS BRAUN

Ob er alte Fotos besitzt? Aufnahmen vom Übergang Friedrichstraße zum Beispiel, der die verwischte Spur deutsch-deutscher Geschichte wieder fühlbar macht? Fotos aus jener Zeit, in der er ein Privileg genoss: die Grenze zu überqueren, wann immer er wollte.

Wahrscheinlich aber hat Hans-Otto Bräutigam kein einziges Bild. Er hat erlebt, was zu erleben war an jüngerer deutscher Geschichte. Als Botschafter der BRD in Berlin, Hauptstadt der DDR. Als Justizminister in Brandenburg. Zuletzt als Vorstand jener Stiftung, die nach über 50 Jahren ein wenig von dem wieder gutzumachen versucht, was die Nazis den Zwangsarbeitern angetan haben. Bräutigam kennt deutsche Teilung, Vereinigung, Wiedergutmachung aus nächster Nähe.

„Bald habe ich hier das ganze Haus voll!“

„Ich hatte mein ganzes Leben lang mit den Folgen des Krieges zu tun“, sagt der 71-Jährige. Es klingt großartig und nüchtern zugleich. Der gelernte Diplomat will nicht aufschneiden. Seine politische Sozialisation fiel in eine Zeit, in der das winzigste Detail nationale Brisanz barg. Die von Willy Brandt in den 70er-Jahren angestoßene Ostpolitik lebte von großen Worten. Und kleinen Taten. Um die DDR-Oberen nicht zu vergraulen. Das hat Bräutigam geprägt.

Sein Job in der Ständigen Vertretung Bonns in Ostberlin verlangte ihm diese Schmiegsamkeit immer wieder ab. Zum Beispiel 1984. Die DDR-Regierung ermöglichte damals sechs Flüchtlingen, die in die US-Botschaft geflüchtet waren, schnell die Ausreise. Als Bräutigam davon erfuhr, sei er blass geworden, erinnert sich der von Erich Honecker bestallte Vermittler, der Anwalt Wolfgang Vogel. „Um Gottes Willen!“, fragte Bräutigam sein Gegenüber, „haben Sie überlegt, was nun passieren wird? Bald habe ich hier das ganze Haus voll.“ Die Sorge bewahrheitete sich. Bis zu 55 Menschen kampierten bald in der Vertretung. Schliefen sie in den Büros. Lasen den Spiegel in der Hausbibliothek. Wollten bleiben, um zu gehen. Bräutigam erreichte für alle die Ausreise. Doch sein Amtssitz in der Hannoverschen Straße drohte die deutsch-deutschen Beziehungen zu stören. „Um unser Haus nicht für die Öffentlichkeit schließen zu müssen, bauten wir es so um, dass Massenfluchten nicht mehr möglich waren“, erinnert er sich.

In Ostberlin lernte er auch den Mann kennen, der später sein Chef werden sollte. Der „kühle“ und „unheimlich politische“ Manfred Stolpe beeindruckte Bräutigam. „Ich wusste damals nicht, ob Stolpe Kontakte zu Staatssicherheit hatte“, meint Bräutigam. Letztlich habe ihn das auch nicht interessiert. Denn Stolpe sei es immer darum gegangen, „die Freiräume für die DDR-Deutschen zu erweitern“.

1990 holte Stolpe den gelernten Juristen als Justizminister in sein Kabinett. Viele verstanden damals nicht, dass der Diplomat dafür einen Botschafterposten bei den Vereinten Nationen aufgab. Vielleicht vermisste er die Heimat. Bräutigam saß gern mit Bürgerrechtlern wie Marianne Birthler in Stolpes Regierung. „Als mir der Platz am Kabinettstisch angeboten wurde, war mir wichtig, dass diese Leute dabei waren“, begründet er seinen Schritt. Allein, Birthler trat zurück, weil sie Stolpes Stasi-Manöver nicht mehr ertragen mochte. Bräutigam blieb. Während sein Ministerpräsident Stolpe wieder und wieder Stasi-Vorwürfe zurückweisen musste, pensionierte sein Justizminister Bräutigam belastete Ostjuristen.

Bis er 1999 doch zurücktreten wollte. Rund 100 verurteilte Kriminelle waren seit 1990 aus Brandenburgs Gefängnissen geflüchtet. Bräutigam war indirekt verantwortlich. Als ertrüge es der ehemalige Ständige Vertreter nicht, dass die Leute anstatt zu ihm nun vor ihm flohen, bat er Stolpe nach einer weiteren spektakulären Flucht um seine Entlassung. „Ich wollte damit ein Zeichen setzen, dass Minister bereit sein müssen, zu gehen“, begründet er den Schritt heute. Stolpe, sein Freund, lehnte ab. Es ist die große Koalition, die Bräutigams Ausflug in die Landespolitik kurz darauf beendet.

Jetzt hätte er anfangen können, Bücher zu schreiben. Oder im Fernsehen mit wichtigen Leuten zu reden, wie sein Vorgänger in Ostberlin, Günter Gaus. Aber Bräutigam machte weiter mit einer Aufgabe nach seinem Geschmack. Im Herbst 2000 berief ihn die Bundesregierung in den Vorstand der Zwangsarbeiterstiftung. Dort kümmerte er sich um die Anerkennung alter Lebensversicherungen. Eine Sisyphosarbeit. Viele Policen sind verloren oder liegen in Archiven versteckt. „Für mich war das die Fortsetzung dessen, was ich in der DDR versucht hatte: Vertrauen schaffen.“

Das sind wieder diese Worte. Eine Nummer zu groß. Aber nicht großartig gemeint. Mit Hans-Otto Bräutigam verabschiedet sich Ende Dezember ein Stück alte Bundesrepublik aus dem Alltagsgeschäft.

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