Reparationszahlungen an Griechenland: Über deutsche Halbwahrheiten
Die Nazis nahmen während der Besatzung griechische Kredite auf. Die heutige Bundesregierung will diese nicht zurückzahlen.
BERLIN taz | Ermäßigte Bustickets und ärztliche Versorgung für Arbeitslose hat Alexis Tsipras in seiner Regierungserklärung angekündigt. Die Bild-Zeitung vom 9. Februar fand das nicht lustig: „Finanzieren will Tsipras die Wohltaten – zumindest zum Teil – mit deutschem Geld.“ Gemeint waren die Reparationszahlungen, die Athen vom Nachfolgestaat des Dritten Reiches fordert, das Griechenland von April 1941 bis Oktober 1944 besetzt, terrorisiert und ausgeplündert hat.
Die Behauptung im Springer-Blatt gehört zu den Halb- und Unwahrheiten, die der deutschen Öffentlichkeit in Sachen „griechische Reparationsansprüche“ aufgetischt werden. Denn Tsipras betonte ausdrücklich, seine Forderung habe nichts mit dem akuten Finanzbedarf Griechenlands zu tun. Natürlich weiß man auch in Athen, dass in absehbarer Zeit keine Wiedergutmachungsgelder aus Deutschland fließen werden, mit denen man die griechische Staatskasse auffüllen könnte.
Dass die Athener Reparationsansprüche nicht nur bei Bild-Lesern Empörung auslösen, zeugt auch von mangelnden Kenntnissen über ein höchst komplexes Thema. Wer wirklich verstehen will, welche Summen für Griechenland letztlich einklagbar wären, muss zunächst einige Dinge auseinanderhalten.
Erstens gibt es Klagen von individuellen Opfern des Nazi-Terrors. Die Überlebenden des Massakers von Distomo stehen hier stellvertretend für viele Überlebende. Die Kläger hatten in Griechenland ein Urteil letzter Instanz zugunsten ihrer Entschädigungsansprüche erwirkt, bei deutschen Gerichten wurde ihre Klage jedoch abgewiesen. Auch auf internationaler Ebene blieben sie ohne Erfolg. Der Haager Internationale Gerichtshof (IGH) entschied im Januar 2012, das Prinzip der „Staatenimmunität“ schließe Klagen von Privatpersonen gegen die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich aus.
Staatsinteressen gehen vor Schutz der Menschenrechte
Das Argument der Distomo-Opfer, das dürfe bei schweren völkerrechtswidrigen Kriegsverbrechen nicht gelten, wurde explizit zurückgewiesen: Dieses Prinzip sei im Völkergewohnheitsrecht noch nicht verankert. Mit diesem Urteil, bedauerte Amnesty International, habe der IGH die Interessen der Staaten über den Schutz der Menschenrechte gestellt. Für die Distomo-Kläger heißt das, dass sie ihre moralisch berechtigten Ansprüche juristisch nicht durchsetzen können. Jedenfalls nicht als Individuen. Ihre Hoffnung bleibt eine Verständigung auf einer anderen Ebene – von Staat zu Staat.
Reparationen werden in der Regel in – bilateralen oder multilateralen – Abkommen ausgehandelt. Auch der IGH verweist auf diesen Weg. In seinem Urteil vom 3. Februar im Streitfall Kroatien gegen Serbien legt er beiden Parteien nahe, ihre Reparationsansprüche untereinander zu regeln. An dieser Stelle stellt sich die Frage, warum es zu einem solchen Reparationsabkommen nach 1945 nie gekommen ist.
Bekanntlich endete die Londoner Schuldenkonferenz mit dem Abkommen vom 27. Februar 1953, das eine Regelung der Reparationen für die von Nazi-Deutschland besetzten Länder bis zu einer „endgültigen Friedensregelung“ vertagte. Als diese 37 Jahre später in Form der deutschen Vereinigung erfolgte, tat die deutsche Regierung alles, um die Erinnerung an die Vereinbarung von London zu löschen. Die deutsche Einheit wurde mit dem 2+4-Vertrag besiegelt. Warum die Regierung Kohl/Genscher den Begriff „Friedensvertrag“ vermied, stand in der FAZ vom 12. Februar 1990: „Für Bonn gilt es, eine Form zu finden, die einen Friedensvertrag – der nach dem Londoner Schuldenabkommen gewaltige Schadenersatzzahlungen an zahlreiche Staaten der Welt zur Folge hätte – überflüssig macht.“
Wie wichtig dieses terminologische Tabu für die Bundesregierung war, hat mir ein Zeitzeuge erzählt, der 1990 im DDR-Außenministerium arbeitete. Der letzte Außenminister Meckel und sein Team hatten damals die naive Idee, das 2+4-Format zu erweitern und Nachbarländer wie Polen und die Niederlande einzubinden. Die Genscher-Leute reagierten panisch: Ihr seid wohl verrückt, das würde ja nach einem Friedensvertrag aussehen. Und dieses Wort sei ohnehin streng verboten.
Diese taktierende Begriffspolitik wurde allerdings von den Partnern des 2+4-Vertrags abgesegnet. Genscher vermerkt in seinen Memoiren ein „stillschweigendes Einverständnis der Vier“ und folgert: „ […] damit war uns auch die Sorge vor unübersehbaren Reparationsforderungen von den Schultern genommen“.
Das stimmt nur bedingt. Zwar wurde 1990 ein multilaterales Abkommen vermieden, aber das würde bilaterale Reparationsansprüche nur dann hinfällig machen, wenn der 2+4-Vertrag alle ehemals okkupierten Länder binden würde. Das aber bestreitet Griechenland. Seit 1990 hat fast jede Athener Regierung erklärt, man habe keinesfalls auf Reparationen verzichtet.
Das F-Wort vermieden
Dem setzt die Berliner Regierung eine verwegene Argumentation entgegen. Auf eine Anfrage der Linken antwortet sie im Februar 2014, die KSZE-Staaten, und damit Griechenland, hätten 1990 den 2+4-Vertrag „zur Kenntnis genommen“, mithin dessen „Rechtswirkungen auch für sich anerkannt“. Dieser Vertrag enthalte bekanntlich „die endgültige Regelung der durch den Krieg entstandenen Rechtsfragen“ – also auch der Reparationsfrage.
Dabei ficht die Bundesregierung nicht an, dass man das F-Wort gerade vermieden hatte, um die R-Frage nicht aufkommen zu lassen. Das ist nun wirklich ein dreistes Stück. Nachdem man 1990 den Begriff Friedensvertrag tabuisiert hat, um sich auf Zehenspitzen am Reparationsproblem vorbeizuschleichen, erzählt man 15 Jahre später, natürlich habe 2+4 die Wirkung eines Friedensvertrags. Das hätten alle wissen müssen. Und da Griechenland sich damals nicht gemeldet habe, sei die R-Frage erledigt. Ätsch.
Griechenland hätte allerdings ohnehin kaum Chancen, Reparationsforderungen gegen den Rechtsnachfolger des Dritten Reiches auf dem juristischen Weg durchzusetzen. Eine günstigere Rechtsposition hat Athen jedoch in einer anderen Frage. Die deutsche Besatzungsmacht hat bei der griechischen Zentralbank zinslose „Zwangsdarlehen“ aufgenommen. Dabei unterschrieb sie eine Verpflichtung auf Rückzahlung, die nach griechischer Auffassung bis heute gültig ist. Eine Klage, die auf unterschriebenen Kreditverträgen mit konkreten Summen basiert, ist viel aussichtsreicher als Reparationsforderungen, deren Höhe siebzig Jahre später schwer zu erfassen sind.
Das hat die Bundesregierung auch erkannt. Deshalb versucht sie verzweifelt, die Besonderheit dieser Anleihe zu leugnen. Auf eine Anfrage der Linken antwortete sie: „Infolge des historischen und sachlichen Zusammenhangs der Zwangsanleihe […] ist diese formal ohne Weiteres als Reparationsforderung zu klassifizieren.“
Kredit bleibt Kredit
Betrachtet man die „weiteren“ Zusammenhänge jedoch nicht „formal“, sondern inhaltlich, bleibt von dieser Verteidigungsposition nichts übrig. Und der Kredit bleibt ein Kredit, den die deutsche und die italienische Besatzungsmacht ausdrücklich von den „normalen“ Besatzungskosten unterschieden haben. Mit den Geldern wurde nicht die Besatzungsverwaltung finanziert, sondern der Nachschub für das deutsche Afrikakorps und militärische Befestigungen auf griechischem Boden.
Der endgültige Beweis: Mit der Kreditvereinbarung vom März 1942 wurden nicht nur die Abzahlungsmodalitäten unterschrieben, die Rückzahlung hatte bereits während der Besatzungszeit begonnen. Deshalb waren beim Abzug der Nazi-Wehrmacht im Oktober 1944 von der Darlehenssumme von 568 Millionen Reichsmark nur noch 476 Millionen zu begleichen.
Den heutigen Wert dieser Summe schätzen Experten auf 7 bis 11 Milliarden Euro. Einige griechische Autoren kommen auf eine hohe zweistellige Milliardensumme, indem sie Zinsen dazurechnen. Doch die Höhe der Summe ist im Grunde sekundär. Wichtiger ist ein anderer Befund: Während Nazideutschland die Pflicht zur Bedienung der Zwangsanleihe – durch Unterschrift und Rückzahlung – anerkannt hat, wird diese Verpflichtung von der heutigen Regierung geleugnet. Das irritiert sogar den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags, der in einem vertraulichen Gutachten (WD 2, 093/13) feststellt, die Zuordnung des Darlehens zu den griechischen „Reparationsansprüchen“ sei keineswegs zwingend.
Die deutsche Seite hat sich in der gesamten Reparationsdebatte immer wieder halsbrecherisch gerechtfertigt. Jahrzehntelang haben deutsche Diplomaten in Athen die griechischen Forderungen mit den zig Milliarden an EU-Hilfen aufgerechnet, als kämen diese Gelder direkt aus deutschen Kassen. Nach 1990 sattelte man dann auf ein anderes Argument um: Deutschland könne angesichts der Vereinigungslasten nicht auch noch Reparationszahlungen leisten.
Im Rückblick ist das ein zwiespältiger Einwand. Man könnte die Rechnung auch anders aufmachen: Hätte man nur ein Fünftel der innerdeutschen „Vereinigungstransfers“ von mindestens 1,5 Billionen Euro für Reparationszahlungen abgezweigt, wären die Griechen und andere Opfer der Nazi-Okkupation schon längst zu ihrem historischen Recht gekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands