Nachruf auf Richard von Weizsäcker: So viel mehr als eine Rede
Im Gedächtnis bleibt der „Tag der Befreiung“. Der Altbundespräsident war vielschichtig und streitbar – und wird über seinen Tod hinaus wirken.
Kaum jemanden haben die Deutschen so respektiert, ja sogar verehrt wie Richard von Weizsäcker. Ihm ist gelungen, was viele Politiker sich wünschen, aber nur sehr wenige erreichen: Über Jahrzehnte hinweg galt er als unangefochtene moralische Instanz im Land. Das verrät allerdings mindestens ebenso viel über das Selbstbild der Deutschen wie über den ehemaligen Bundespräsidenten, der am Samstag im Alter von 94 Jahren in Berlin gestorben ist.
Richard von Weizsäcker hatte in seinem Leben viele politische Ämter inne. Er war Abgeordneter des Bundestages und dessen Vizepräsident, er war Leiter der Grundsatzkommission der CDU, Regierender Bürgermeister von Berlin und Staatsoberhaupt. Über seinen Tod hinaus im Gedächtnis bleiben wird er jedoch nicht mit einer Entscheidung oder entschlossenem Handeln im Angesicht einer Kontroverse. Sondern mit einer Rede.
Am 40. Jahrestag des Kriegsendes, am 8. Mai 1985, fand der damalige Bundespräsident vor dem westdeutschen Parlament jene Worte, die bis heute über Grenzen der politischen Lager hinweg als erlösend empfunden werden: Der Tag sei für die Deutschen kein Grund zum Feiern, so von Weizsäcker, wohl aber ein „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ (Rede im Wortlaut)
Das war mehr als eine unmissverständliche Distanzierung vom Faschismus. Das definierte den Nationalsozialismus als unvergänglichen Teil der deutschen Vergangenheit. Zugleich aber legte der Ausdruck „Befreiung" den Gedanken nahe, auch die Mehrheit der Deutschen sei vom nationalsozialistischen Regime unterdrückt worden - und nicht etwa Teil dessen gewesen. Eine Formulierung, die auf den ersten Blick provokant und mutig wirkte, enthielt zugleich eine Botschaft, die Mitläufer entlastete.
Strebsam, aus gutem Haus
Gustav Heinemann, einer der inzwischen fast vergessenen Vorgänger von Richard von Weizsäcker im Amt des Bundespräsidenten, hatte während des so genannten Dritten Reichs illegal Flugblätter für die Bekennende Kirche hergestellt und verbreitet. Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt, bis heute eine Ikone der Sozialdemokratie, war Widerstandskämpfer gewesen. Für ihre Vergangenheit bewundert wurden beide Männer allenfalls von einer Minderheit. Richard von Weizsäcker, ein strebsamer Sohn aus gutem Hause, war als Vorbild offenbar besser geeignet.
Es würde der damaligen Situation nicht gerecht, wollte man unterstellen, es sei Richard von Weizsäcker vor allem um eine Selbstentschuldung der Deutschen gegangen, als er zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vor dem Bundestag sprach. So einfach ist es nicht. Dazu hat er sich bis zu seinem Tod allzu intensiv und schmerzhaft mit der Frage politischer Schuld auseinandergesetzt. Auch und vor allem aus persönlichen Gründen.
Richard von Weizsäcker wurde 1920 in Stuttgart geboren. In Verhältnisse, die für die Ewigkeit gemacht zu sein schienen: Gesichert, bildungsbürgerlich - ungeachtet des nicht allzu bedeutenden Adelstitels -, respektiert. Der Vater war Diplomat. Und blieb es, auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten.
In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde Ernst Freiherr von Weizsäcker wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit" vor Gericht gestellt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Ein Urteil, das der Sohn Richard auch Jahrzehnte später noch als „ungerecht" bezeichnen sollte. Der spätere Jurist, damals noch Student, hatte an der Verteidigung seines Vaters mitgearbeitet. Der erst Deportationsbefehle für Juden nach Auschwitz unterzeichnet und dann behauptet hatte, vom Holocaust erst nach dem Krieg erfahren zu haben.
Brücken schlagen
Was kann, was darf ein Nachgeborener denen vorwerfen, die - um mit Bertolt Brecht zu sprechen - in „finsteren Zeiten" gelebt haben? „Eine Distanzierung vom Vater wäre ihm ehrenrührig vorgekommen," sagt der Publizist Gunter Hofmann, der ein hoch gelobtes Porträt über Richard von Weizsäcker veröffentlicht hat. „Objektiv ist er mit seiner Rede zum 8. Mai 1945 aus dem Schatten des Vaters getreten, aber eben nicht subjektiv."
Vielleicht, nein: wahrscheinlich liegt darin der Schlüssel zum Wirken von Richard von Weizsäcker. Lebenslang hat er versucht, Brücken zu schlagen zwischen Positionen, die unvereinbar zu sein schienen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Ostverträge für heute unvorstellbare innenpolitische Zerwürfnisse sorgten, suchte er nach einem Ausgleich. Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Ausdruck konkreter Friedenspolitik, ja, unbedingt. Einerseits.
Andererseits aber wollte er auch nicht zu weit gehen und sich der Mehrheit seiner Parteifreunde nicht entfremden. Zu einer Zustimmung zum Moskauer Vertrag von 1970, in dem die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR als unverletzlich erklärt wurde, konnte er sich nicht durchringen. Zugleich kämpfte er erfolgreich gegen ein „Nein". Stimmenthaltung war der Ausweg. Hat er damit die Ratifizierung des Vertrages überhaupt erst ermöglicht - oder war er zu feige, seine wahre Überzeugung offen darzulegen?
Darüber werden Historiker vermutlich noch lange streiten. Und wenn man das nicht als Floskel schreibt, sondern ernst meint, dann ist das ja auch ein Hinweis auf die geschichtliche Bedeutung eines Menschen. Dass er noch über seinen Tod hinaus für Kontroversen sorgt - weil es eben nicht gleichgültig ist, was er wollte.
Vereinen heißt teilen
Hinweise auf die Gesellschaft, in der er zu leben wünschte, gibt es. Immerhin. Auf dem Höhepunkt rechtsextremer Ausschreitungen gegen Ausländer zu Beginn der 90-er Jahre wandte sich Richard von Weizsäcker - vergeblich - gegen die Beschneidung des Rechts auf Asyl und eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes.
Fast zeitgleich warf er der „Politikerschicht" vor, sie erliege einer „Machtversessenheit in Bezug auf Wahlkampferfolge". Im Hinblick auf den deutschen Vereinigungsprozeß mahnte er, sich zu vereinen lernen hieße: teilen lernen. Und im März 1993 appellierte Richard von Weizsäcker an die Politikerinnen und Politiker in Deutschland, ihre Führungsverantwortung wahrzunehmen und die Achtung der Bevölkerung zurückzugewinnen.
Manchmal greift das kollektive Gedächtnis und der Respekt vor dem vermeintlichen Kern einer Lebensleistung vielleicht doch allzu kurz. Ob man Richard von Weizsäcker wirklich gerecht wird, wenn man ihn auf seine Rede von 1985 zum Thema 1945 reduziert? Wahrscheinlich sagen seine weniger beachteten, aber deutlich unbequemeren Äußerungen zur jeweiligen Gegenwart mehr - und Besseres - über ihn aus als seine Einschätzung der Vergangenheit. Sie lassen sich allerdings auch weniger leicht beerdigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag