Linksextremer Gefährder: Wie gefährlich ist Christian S.?

Christian S. ist einer von zwei linksextremen Gefährdern in Deutschland. Seit er das weiß, versteht er, warum ihm viele seltsame Dinge passieren.

Der Gefährder: wie ein Mensch in einer Schablone Foto: Oliver Sperl

Ein Mann, braungebrannt, groß und sportlich, sitzt am Tisch und rührt in seinem Milchkaffee. Es ist ein strahlend schöner Spätsommertag, ein Biergarten in Berlin-Kreuzberg, Kies knirscht unter den Füßen. „Wenn hier jetzt in zwei Stunden ein Mensch erstochen wird“, sagt er und deutet auf die Baumgruppe ein paar Meter weiter weg, „und die Polizei findet diese Kaffeetasse hier mit meiner DNA, dann werden die alles versuchen, um mir das anzuhängen.“

Seinen vollen Namen will der Mann nicht preisgeben. Christian S., das muss reichen. Die Geschichte, die sein Leben bestimmt, soll erzählt werden. Aber er möchte nicht, dass jeder seinen Namen kennt. S. muss davon ausgehen, dass die Polizei ihn für jemanden hält, der Straftaten in erheblichem Ausmaß begehen wird. Er gilt als Gefährder, genauer: als linker Gefährder, einer von nur zweien in Deutschland. S. ist überzeugt davon, dass die Polizei Unrecht hat. Aber er kann nichts dagegen tun.

Vielleicht, denkt Christian S., gälte er nicht mehr als Gefährder, wenn er sein Leben radikal änderte: weit wegziehen, den Kontakt zu seinen Freunden abbrechen, seine Überzeugungen aufgeben. Nur, was wäre dann noch von ihm übrig?

Das erste Mal, dass Christian S. denkt, dass etwas komisch läuft, ist fast 13 Jahre her. Damals steht er vor Gericht, weil er bei Protesten gegen einen Neonaziaufmarsch in Dresden eine Flasche auf einen Polizisten geworfen haben soll.

Es ist nicht das erste Mal, dass Christian S. auf der Anklagebank sitzt. Doch dieser Prozess ist anders: Die Zivilpolizisten, die gegen S. aussagen sollen, tragen einen falschen Schnauzbart und eine Langhaarperücke. Ihre Verkleidung wirkt absurd, genau wie ihr Verhalten. Sie weigern sich, im Gerichtssaal in Berlin-Tiergarten ihren Namen zu nennen. Stattdessen stellen sie sich mit einem Zahlencode vor: 56765 der eine, 56766 der andere, 33018 der dritte. Auf Fragen der Richterin antworten sie immer wieder mit dem gleichen Satz: „Ich bin nicht befugt, dazu eine Aussage zu machen.“

Manchmal wird aufgelacht im Zuschauerraum, weil sich die Polizisten so seltsam verhalten. Christian S. lacht nicht. Er fragt sich: Warum diese Maskerade? Und vor allem: Was hat es mit ihm zu tun, wenn die Polizei glaubt, ihre Beamten verkleiden zu müssen, bevor sie gegen ihn aussagen?

Das Versteckspiel der Polizisten ist auch aus Sicht der Richterin ungewöhnlich. Sie wendet sich gleich am ersten Prozesstag an die Berliner Innenverwaltung, bittet um Auskunft über die Identität der Polizeizeugen. Eine Woche später wird ihr Gesuch abgelehnt: „Dem Verlangen auf Bekanntgabe der Identität kann im vorliegenden Fall nicht entsprochen werden, weil ihre Bekanntgabe dem Wohl des Landes Berlin Nachteile bereiten würde“, heißt es in dem Schreiben. Christian S. habe „eine gewichtige Symbolfunktion in dem einschlägigen Milieu mit linksextremistischem Hintergrund“. Gäben die Polizisten vor Gericht ihre Identität preis, führe dies zu einer „unmittelbaren und ernsthaften Gefährdung der Beamten und ihrer Angehörigen“.

Zwei linksextreme Gefährder gibt es in Deutschland. Einen von ihnen haben wir getroffen. Wie er sich gegen die Einstufung der Polizei wehrt, lesen Sie in der taz am wochenende vom 1./2. Dezember 2018. Außerdem: Wie der Springerkonzern Friedrich Merz großmachte. Und: Ein Interview mit dem Schriftsteller T.C. Boyle über angeblich gentechnisch veränderte Babys in China. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und bei Facebook und Twitter.

Christian S., der über seine Anwältin von dieser Begründung erfährt, hat nun eine Antwort auf die Fragen, die er sich im Gerichtssaal stellte. Beruhigend ist sie nicht. S. war schon klar, dass er keiner ist, den die Polizei gut leiden kann. Aber dass das Leben von Polizisten und ihren Familien seinetwegen gefährdet sei, hört er zum ersten Mal.

S. wird schließlich verurteilt, legt Berufung ein, hat Erfolg: Das Urteil wird gekippt. Doch erledigt ist die Sache damit nicht. Er will wissen, was in diesem Prozess los war.

„Ich fand das völlig absurd, dass behauptet wurde, wer in einem Prozess gegen mich seinen Namen sagt, müsste um sein Leben fürchten“, sagt S. an diesem Tag im Spätsommer, 13 Jahre später. Seine grauen Haare trägt er kurz geschoren, Arme und Hals sind mit Tätowierungen bedeckt. Er spricht ruhig und bedacht. Er sehe älter aus, als er ist, hieß es in einem Artikel über S., der vor mehr als zwölf Jahren in einer Berliner Zeitung erschien. Heute ist es umgekehrt: Dass S. nächstes Jahr 50 wird, sieht man ihm nicht an.

Es ist ein langer und zäher Kampf, den S. damals nach der Gerichtsverhandlung beginnt und bis heute führt. Er will wissen, welche Informationen die Sicherheitsbehörden über ihn gespeichert haben. Er stellt ein Auskunftsersuchen an Verfassungsschutz und Polizei. Es wird abgelehnt. 2006 reicht seine Anwältin die erste Klage auf Herausgabe der Daten beim Berliner Verwaltungsgericht ein.

Es gibt kein Gesetz, das die Einstufung regelt

Mehrere Jahre muss S. mit der Ungewissheit leben, dass die Polizei ihn besonders behandelt, er aber nicht weiß, warum. Erst vor anderthalb Jahren bekommt er Klarheit. Über ein Leck in den Behörden ist S. an eine Akte gelangt, die auch die taz einsehen konnte. Aus dieser geht hervor, dass das Berliner Landeskriminalamt ihn als linksextremen Gefährder eingestuft hat.

Insgesamt werden in Deutschland knapp 800 Personen als Gefährder geführt. Gut 760 davon in der Kategorie „religiöse Ideologie“, gut 30 in der Kategorie „politisch motivierte Kriminalität rechts“. Unter „politisch motivierte Kriminalität links“ nur zwei Personen – Christian S. und noch ein anderer Mann.

Diese Zahlen nannte das Bundeskriminalamt der taz auf eine Anfrage im November. Als die Linksfraktion im Bundestag 2017 die Anzahl abgefragt hatte, waren es noch vier linksextreme Gefährder. Christian S. und seine Anwältin gehen davon aus, dass S. nach wie vor dazugezählt wird, doch sicher wissen können sie es nicht. Wer als Gefährder eingestuft wird, bekommt keinen Brief der Polizei, in dem das drinsteht. Und ebensowenig erfährt man, wenn diese Einstufung nicht mehr gilt.

Seit Christian S. die Information besitzt, die er eigentlich gar nicht besitzen dürfte, hat er eine Erklärung dafür, warum in seinem Leben immer wieder seltsame Dinge passieren.

S. gehört zum Umfeld der Rigaer94, eines Hausprojekts in Berlin-Friedrichshain, das in den Berliner Verfassungsschutzberichten seit Jahren als eine Art bundesweite Kommandozentrale des Linksextremismus dargestellt wird. Im Gebiet rund um die Rigaer Straße darf die Polizei anlasslos Passanten kontrollieren. S. sagt, es sei mehrfach passiert, dass Polizeibeamte während einer solchen Personenkontrolle, in die er geraten sei, in Panik geraten seien: „Wenn die meine Daten eingeben und die Einträge dazu aufrufen, ist plötzlich richtig was los.“ Die Beamten hätten ihre Waffen auf ihn gerichtet, Verstärkung sei herbeigeeilt. S. schildert auch das ganz ruhig. Es wirkt nicht so, als berühre es ihn emotional, als mache es ihm gar Angst. Es wirkt, als habe er sich damit abgefunden. Aber richtig findet er es auch nicht.

S. benutzt kein Telefon, weil er befürchtet, dass er abgehört wird

Über die Einstufung als Gefährder bestimmt kein Richter, sondern die Polizei. Bei ihr gilt eine Person als Gefährder, wenn „bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von besonderer Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der StPO begehen wird“. Also jene Straftaten, die so schwer sind, dass sie die Überwachung der Telekommunikation rechtfertigen.

Aber was genau sind diese „bestimmten Tatsachen“? Es gibt kein Gesetz, das die Einstufung als Gefährder regelt, die Polizei muss ihre Entscheidung niemandem gegenüber rechtfertigen. Man kann auch sagen: Gefährder sind Menschen, gegen die die Polizei vorgehen will, bei denen es aber nicht einmal für eine Anklage genügend gerichtsfeste Beweise gibt, geschweige denn für eine Verurteilung.

Für diejenigen, die als Gefährder eingestuft werden, hat das erhebliche Konsequenzen. Gefährdern kann der Pass entzogen werden, elektronische Fußfesseln sind seit einer Gesetzesnovelle im Frühjahr 2017 bundesweit möglich. In Bayern können Gefährder theoretisch unbegrenzt in Präventivhaft genommen werden – ohne dass ihnen auch nur die Vorbereitung einer Straftat nachgewiesen werden muss. Die Innenpolitiker von CDU und CSU haben sich dafür ausgesprochen, diese Regelung auch bundesweit einzuführen. Wer als Gefährder eingestuft ist, muss damit rechnen, dass in seinem Fall ständig polizeirechtliche Maßnahmen geprüft und angewandt werden.

Passentzug und Fußfessel betreffen vor allem islamistische Gefährder, bei denen die Polizei fürchtet, dass sie sich ins Ausland absetzen könnten. Christian S. kann Deutschland verlassen. An Flughäfen, sagt er, komme es jedoch bei jeder Reise zu Verzögerungen. Mal sei angeblich sein Gepäck verschwunden, mal werde er stundenlang verhört. S. glaubt, dass die Behörden in dieser Zeit prüfen, ob sie ihn ausreisen lassen können.

Oft wird kritisiert, die Einstufung von Menschen als Gefährder sei mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. Doch die Kritiker haben es schwer, ihr Gegner ist die Angst. Das Versprechen, das in dem Begriff Gefährder liegt, lautet: Wir ziehen die bösen Jungs – und die wenigen Frauen – aus dem Verkehr, noch bevor sie die schlimmen Dinge auch nur planen können. Ein Versprechen größtmöglicher Sicherheit.

Nur, wieviel Angst müsste es einem eigentlich machen, dass die Polizei in Deutschland Dinge tut, die von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International als „massive Eingriffe ins Grundrecht“ kritisiert werden? Und: Für wen ist Christian S. eine Bedrohung?

Er prügelt sich mit der „Borussenfront“

Christian S., gebürtiger Aachener, wächst in Dortmund auf. Schon als Kind geht er regelmäßig zu Fußballspielen der Borussia. 1982, da ist er 13, macht er zum ersten Mal Bekanntschaft mit Rechtsextremen. Damals tauchen im Westfalenstadion Fans auf, die sich als Borussenfront bezeichnen und Jagd machen auf alle, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Eine Freundin von ihm sei damals niedergestochen worden, sagt Christian S.

In Dortmund landet er später auf der Straße, sitzt immer wieder wegen kleinerer Delikte im Knast. Er prügelt sich mit Anhängern der Borussenfront, wirklich politisch aktiv ist er damals noch nicht. 1994 muss er wegen mehrerer Diebstähle für drei Jahre ins Gefängnis. „Danach habe ich entschieden: Ich will weg von der Straße und weg aus Dortmund“, sagt S.

Nach seiner Entlassung 1997 kommt er nach Berlin. Die Freie Hilfe, eine Organisation zur Unterstützung straffällig gewordener Menschen, vermittelt ihm eine Wohnung in Berlin-Marzahn, am östlichen Rand der Stadt, doch die Sozialarbeiter, erzählt er, warnen ihn: Dort wohnten viele Neonazis, nachts solle er öffentliche Verkehrsmittel lieber meiden.

Zu dieser Zeit wird der Kampf gegen Neonazis das neue Lebensthema von Christian S. Er verbringt mehr Zeit auf Demonstrationen, Plena und in linken Kneipen als zu Hause. Die linke Szene wird für S. zu einer Art Ersatzfamilie, und das ist bis heute so.

Dann wirft er Steine

Zu dieser Zeit ändert sich auch der Charakter seiner Einträge in den Polizeiregistern. Statt um Diebstähle und Prügeleien geht es nun um politische Delikte. Zweimal wird er erwischt, als er Wahlplakate rechtsextremer Parteien abreißt. Im Jahr 2000 wird er zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er Steine auf eine NPD-Demo geworfen haben soll.

Am 1. Mai 2004 marschieren mehrere tausend Neonazis im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg auf, wo damals ein ganzer Kiez in der Hand von Rechtsextremen ist, es ist die Anfangszeit der sogenannten Autonomen Na­tio­na­lis­ten. Aus der Menge heraus werden Polizisten angegriffen, die Stimmung ist aggressiv.

Die Neonazis wollen ins benachbarte Friedrichshain, Stadtteil der Punks und Ostberliner Hausbesetzer. Christian S. gehört zu denen, die das verhindern wollen. Auf der Frankfurter Allee, die beide Viertel verbindet, zünden Aktivisten Mülltonnen an und schieben sie auf die Straße. Christian S. macht mit. Dann zerren sie einen an der Seite parkenden Mercedes auf die Fahrbahn und kippen ihn um. Christian S. nimmt ein Feuerzeug, langt durch die zerstörte Heckscheibe des Autos und zündet die Papiere an, die dort im Kofferraum liegen. Ein Wasserwerfer – die Polizei hat zuvor mit einem Großaufgebot Sitzblockaden von der Straße entfernt – löscht das Feuer wenige Minuten später.

Christian S., Gefährder

„Ich weiß, dass alle Menschen, mit denen ich Kontakt habe, ebenfalls in den Fokus der Polizei rücken“

Das alles gesteht Christian S. detailliert, als er ein halbes Jahr später im Amtsgericht Berlin auf der Anklagebank sitzt. In einer fast zehnseitigen Prozesserklärung beschreibt er, warum er sich zu dieser Tat entschlossen habe, erklärt seine Politisierung anhand biografischer Ereignisse, gibt eine kenntnisreiche Einschätzung der damaligen Berliner Neonaziszene ab. Sein Geständnis nützt ihm wenig, im Dezember 2004 wird er zu drei Jahren Haft verurteilt. Zusätzlich wird für die zehn Monate aus der letzten Verurteilung die Bewährung widerrufen, auch diese Strafe muss er nun absitzen.

In der linken Szene ist die Empörung groß. Schon der Prozess hat Aufsehen erregt, Christian S. ist jetzt eine bekannte Figur. Am Abend der Urteilsverkündung gibt es eine Spontandemonstration in Kreuzberg, es werden Solidaritätserklärungen veröffentlicht und Aufrufe, für Christian S. zu spenden.

Der Verfassungsschutz muss einen Informanten gehabt haben

Der Berliner Verfassungsschutz hat bereits am 10. Mai 2004 ein Personagramm zu Christian S. angelegt. Im Auge hat er ihn offenbar schon länger. Die Vermerke, wann er wo an welcher Demonstration teilgenommen hat, reichen bis ins Jahr 2001 zurück. Nun, nach der Verurteilung für die Tat mit dem brennenden Mercedes am 1. Mai 2004, legt der Verfassungsschutz erst richtig los: Solidaritätserklärungen und Spendenaufrufe, Artikel in der Szenezeitschrift Interim, in Kneipen ausgehängte Veranstaltungsankündigungen, jeder noch so unwichtig erscheinende Kommentar zu Christian S., der auf der linken Internetplattform Indymedia veröffentlicht wurde, findet sich in der Akte, die der Verfassungsschutz zu S. führt.

Darunter sind auch Dokumente, die nicht öffentlich zugänglich sind: von Mitarbeitern der Behörde erstellte Berichte von politischen Veranstaltungen, die S. besucht habe, und Mitschriften von einem Treffen der Antifaschistischen Linken Berlin, auf dem über „Kreuzberg-Christian“ und seine bevorstehende Haftstrafe gesprochen worden sei. Der Verfassungsschutz muss zu diesem Zeitpunkt einen Informanten in der Gruppe gehabt haben.

Vermutlich nicht nur dort. Doch der Satz zu „Kreuzberg-Christian“ ist eine der wenigen Stellen der dicken Akte zu S., die der Verfassungsschutz nicht geschwärzt hat, bevor er sie an das Berliner Verwaltungsgericht und damit an S.’ Anwältin übergab. Auf vielen Seiten wurde der Stift so großzügig angesetzt, dass das Ergebnis an ein modernes Kunstwerk erinnert.

Die Sperrerklärung, in der die Behörde begründet, warum sie welche Stellen geschwärzt hat, umfasst 33 Seiten. Sie endet mit der Feststellung, dass „der Schutz der künftigen Aufgabenerfüllung der Berliner Verfassungsschutzbehörde die gegenläufigen gerichtlichen und klägerseitigen Offenbarungsinteressen“ überwiege. Das heißt: Damit der Verfassungsschutz seine Arbeit machen kann, darf S. nicht erfahren, was dort über ihn gespeichert ist.

Dass S. überhaupt diese Akte in Händen halten kann, hat er seinem langen Atem zu verdanken. Die Herausgabe ist das Ergebnis der Datenklage, die er und seine damalige Anwältin 2006 begannen; damals, als sie wissen wollten, warum die Polizisten einen falschen Bart trugen. Die Klage zieht sich über Jahre, der Briefwechsel mit dem Verfassungsschutz läuft mehr als schleppend. Erst 2017 gibt es einen Durchbruch. Da rückt die Behörde auf Geheiß des Verwaltungsgerichts schließlich die Akte heraus.

S. benutzt kein Telefon

Seit er weiß, welchen Status er hat, ist S., der so abgebrüht wirkt, noch vorsichtiger geworden als ohnehin schon. S. benutzt kein Telefon, weil er befürchtet, dass er abgehört wird. Er geht nur noch selten auf Demonstrationen, und wenn er es tut, verzichtet er darauf, dort Bekannte zu grüßen, auch wenn die sich wundern, warum er so tut, als sähe er sie nicht. „Ich weiß, dass alle Menschen, mit denen ich Kontakt habe, ebenfalls in den Fokus der Polizei rücken“, sagt er.

Wenn jemand als Gefährder eingestuft wird, hat das auch für sein Umfeld Konsequenzen. Wer Kontakt zu einem Gefährder pflegt, kann von der Polizei als „relevante Person“ eingestuft werden, sozusagen als Vorstufe zum Gefährder. 758 solcher Personen gibt es laut einer im März veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. 104 davon im Bereich „politisch motivierte Kriminalität links“. Der taz liegt ein Schreiben des Berliner LKAs vor, aus dem hervorgeht, dass eine Person aus dem Umfeld von Christian S. seit April 2014 als „relevante Person – Kontaktperson zu einem Gefährder“ mit dem Zusatz „potenzielle Gefährder links“ erfasst ist.

Wenn Christian S. mit Freunden in der Kneipe sitzt, achtet er darauf, wer an den anderen Tischen sitzt. „Wir versuchen dann, bestimmte Themen zu meiden, zum Beispiel nicht darüber zu reden, welche Demonstrationen am Wochenende anstehen, obwohl das ja eigentlich nicht verboten ist“, sagt er. Er hat das Gefühl, immer unter Verdacht zu stehen, egal was er tut: „Wenn wir bestimmte Themen meiden, steht hinterher in der Akte, wir würden uns konspirativ verhalten“, sagt er. „Wenn ich mich normal anziehe, wird extra festgehalten, es sei bemerkenswert, wie unauffällig ich auftrete.“

Die mögliche Überwachung beschäftigt S. ständig. Wenn er über die Straße geht, mustert er die Kennzeichen vorbeifahrender Autos. Zwei eng beschriebene DIN-A4-Seiten hat er immer dabei: eine in Berliner Autonomenkreisen gepflegte Liste von Autokennzeichen, die zu Zivilfahrzeugen der Polizei gehören sollen.

„Natürlich frage ich mich, ob ich paranoid werde“, sagt er. „Aber wie soll ich denn noch zwischen berechtigter Sorge und Paranoia unterscheiden?“ Christian S. verbringt viel Zeit damit, sich über den aktuellen Stand polizeilicher Überwachungsmethoden zu informieren.

Mehrere Versuche, die Rigaer94 zu räumen, sind gescheitert, der politische Druck, gegen das Hausprojekt vorzugehen, ist offenbar hoch: Im Juni wurde bekannt, dass zwei Jahre zuvor Observierungsteams der Berliner Polizei, die eigentlich auf islamistische Terrorverdächtige angesetzt waren, für Einsätze an der Rigaer Straße abgezogen wurden. Zu den Islamisten, die anschließend nicht mehr beobachtet wurden, soll auch Anis Amri gehört haben, der ein halbes Jahr später am Berliner Breitscheidplatz mit einem Attentat zwölf Menschen tötete.

Eine linksextreme Kommandozentrale?

Man könnte dazu eine Theorie entwickeln: Die Berliner Polizei verwendet seit mehreren Jahren einen Gutteil ihrer Ressourcen darauf, zum Komplex Rigaer94 zu ermitteln. Und dennoch ist es ihr bisher offenbar nicht gelungen, den dazugehörigen Menschen Straftaten größeren Ausmaßes nachzuweisen. Anklagen, die die Behauptung untermauerten, bei der Rigaer94 handele es sich um eine linksextreme Kommandozentrale, gibt es bislang nicht.

Man könnte daraus folgern, dass der Druck auf die Polizei, solche Straftaten nachzuweisen, steigt. Dass sie deswegen so viel wie möglich überwachen will, was sich rund um die Rigaer94 abspielt. Und dass es dafür sehr praktisch ist, wenn einer der Menschen, die dort ein und aus gehen, als Gefährder eingestuft ist – mit allen Konsequenzen, die das für dessen Überwachung und die seines Umfelds mit sich bringt.

„Eine Einstufung als Gefährder bietet unter Umständen mehr Möglichkeiten zur Überwachung als ein Strukturermittlungsverfahren nach § 129 StGB“, sagt Peer Stolle, Vorsitzender des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV), eines bundesweiten Zusammenschlusses von Rechtsanwälten, der sich für Bürger– und Menschenrechte einsetzt.

Ein solches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen oder terroristischen Organisation wäre viel aufwendiger, bei der Einstufung einer Person als Gefährder, sagt Stolle, „gibt es weniger richterliche Kontrolle, eine Staatsanwaltschaft ist nicht involviert, und die Ermittlungsbehörden müssen sich nicht irgendwann entscheiden, ob die gesammelten Erkenntnisse für eine Anklageerhebung ausreichen“. Und die Polizei habe „vielfältige Möglichkeiten, die betroffenen Personen und ihr Umfeld zu überwachen und auszuforschen“.

Die Polizei äußert sich nicht

Dass die Polizei die Gefährder-Kon­struk­tion einsetzt, um mehr über Strukturen wie die Rigaer Straße zu erfahren, ist nur eine Theorie. Vielleicht gibt es auch ganz andere Gründe, aus denen heraus Christian S. so eingestuft wurde. Nur, die Polizei nennt sie nicht. Nicht gegenüber Christian S. und seiner Anwältin und nicht gegenüber der taz: Ob es in Berlin einen linksextremen Gefährder gebe, könne er nicht sagen, und wenn es so wäre, würde er sich dazu nicht äußern, sagt der Berliner Polizeisprecher Thomas Neuendorf.

Was bleibt, sind die Informationen, die Christian S. und seine Anwältin in ihrem langen Kampf von den Behörden erhalten haben. So weiß S., dass sich in den polizeilichen Datenbanken Einträge zu ihm finden, die fehlerhaft sind: Ein angeblicher Aliasname ist dort gespeichert, von dem er angibt, ihn noch nie gehört zu haben; es wird ihm die Beteiligung an einer Demonstration in Frankfurt nachgesagt, die zu einem Zeitpunkt stattfand, zu dem er sich nachweislich im Ausland befand.

Es gibt noch schwerwiegendere Ungereimtheiten: Am 6. Juni 2013 werden Polizeibeamte am Kottbusser Tor in Berlin von einer vermummten Gruppe angegriffen. Weil dabei eine mit Brandbeschleuniger gefüllte Flasche nur knapp eine Beamtin verfehlt haben soll, wird anschließend ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Mordes eingeleitet. Auch S. gerät dabei ins Visier der Ermittler, die bei ihm eine zwangsweise angeordnete DNA-Entnahme veranlassen. Der DNA-Abgleich mit Spuren vom Tatort ist negativ, das Verfahren gegen S. wird eingestellt. Doch laut Auskunft des Bundeskriminalamts findet sich im polizeilichen Informationssystem ­Inpol zu S. nach wie vor ein Eintrag zu dem Delikt Mord, Tatzeit 6. Juni 2013, Tatort Berlin.

S. hat sich wegen dieser Einträge an die Bundesbeauftragte für Datenschutz Andrea Voßhoff gewandt. In der Antwort bezieht diese sich auf eine Aussage des Bundeskriminalamts: Die Datei, in der die Daten zu S. gespeichert seien, sei nur für autorisierte Mitarbeiter des Polizeilichen Staatsschutzes einsehbar, bei Ausweiskontrollen hätten die Beamten darauf keinen Zugriff. Weitere Auskunft zu diesem Punkt könne nicht erteilt werden: „Das Geheimhaltungsinteresse des BKA überwiegt Ihr Auskunftsinteresse“, heißt es in dem Schrei­ben aus Voßhoffs Büro.

S. ist überzeugt davon, dass die Polizei unrecht hat. Aber er kann nichts dagegen tun

Spätsommer 2018, zurück im Kreuzberger Biergarten, wo für S. selbst eine Tasse Kaffee nicht nur einfach ein Getränk ist. Die Haftstrafe nach der Verurteilung wegen des in Brand gesteckten Mercedes am 1. Mai 2004 hat er verbüßt, im August 2009 wurde S. nach gut zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Seitdem gibt es keine größeren Delikte mehr in seinem Vorstrafen­register. Geldstrafen wegen Schwarzfahrens und wegen des Verklebens von ­impressumfreien Plakaten, Kleinig­keiten, die auch schon Jahre zurückliegen.

Und doch hat Christian S. immer wieder Angst, dass er für Straftaten belangt werden könnte, die er gar nicht begangen hat. Nachts meidet er den öffentlichen Nahverkehr wie damals, als er nach Berlin gezogen ist, nur aus anderen Gründen: „Wenn da an einem Bahnhof einer abgestochen wird, und hinterher bin ich auf den Überwachungsbildern vom Bahnsteig zu sehen, dann stehen die doch direkt bei mir vor der Tür.“

Er könnte Berlin verlassen, sich aus der Szene komplett zurückziehen, ein klares Signal an die Polizei aussenden, dass von ihm wirklich keine Gefahr ausgeht. Aber das ist für ihn keine Option. Hier sind seine Freunde, sie sind eine Art Ersatzfamilie geworden. Klein beigeben fände er auch aus einem anderen Grund falsch: „Die sollen nicht denken, dass ich aufgebe.“

Es solle nicht der Eindruck entstehen, er würde sich von irgendetwas, das er getan hat, distanzieren. Er erwarte auch nicht, dass die Behörden ihn mit Samthandschuhen anfassen müssten, sagt er. „Für mich ist der Staat ein Feind, den es zu bekämpfen gilt, natürlich erwarte ich nicht, dass der mich dafür in Ruhe lässt.“

Ein Staatsfeind ist S. in dieser Hinsicht schon, ein verurteilter Straftäter ohnehin. Nur, was rechtfertigt immer noch die Einordnung als Gefährder bei einem, dessen letzte Verurteilung nun 14 Jahre zurückliegt? Gilt bei ihm quasi „lebenslänglich“ ohne Anklage?

Christian S. wird im nächsten Jahr 50. Er sagt, er wolle ein Leben führen, in dem er nicht ständig davon ausgehen müsse, dass er und seine Freunde überwacht werden. Ob es jemals dazu kommen wird, weiß er nicht.

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