Konzept Reformpädagogik: Bildungsprediger in der Krise

Reformpädagogen predigen die Nähe zum Schüler. Aber was heißt Beziehung ganz konkret? Anmerkungen zur pädagogischen Schönfärberei.

Aber was bedeutet denn Nähe, wenn man als Lehrer innerhalb eines Tages mehrere Dutzend Lernende betreuen muss? Bild: dpa

In Deutschland gibt es eine alte Tradition von Bildungspredigern. Besonders die selbsternannten Reformpädagogen – sei es Gustav Wyneken, Paul Geheeb, Hermann Lietz oder wie sie alle heißen – beherrschen die Kunst der schönen Rede, die vor allem eine Kunst der apodiktischen Feststellungen ist. In einem Spiegel-Online-Interview, das vor zwei Jahren gegeben wurde und nichts an Aktualität eingebüßt hat, meldete sich der populäre Reformpädagoge Remo Largo zu Wort.

Wieder einmal spricht er vom Fehlen emotionaler Bindung oder auch Beziehung im Klassenzimmer. Das sei die Ursache der allgegenwärtigen Misere der schulischen Wirklichkeit. Ferner stellt er fest, dass Lehrer und Schüler in Welten zu Hause wären, die einander fremd seien. Die Lehrer seien in der Handhabung der virtuellen Welten ihren Schülern hoffnungslos unterlegen, und dies liefe auf einen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit hinaus. Eine eigenwillige Deutung für das Scheitern der Pädagogen.

Kindern auf Augenhöhe zu begegnen bedeutet für mich, dass man bereit ist, die Denkstrukturen der Kinder mit dem Maßstab der Kinder zu messen, sich also darum bemühen muss, die bereits vorhandenen Schemata der Kinder zu erkennen. Wer dies nicht kann, wird nicht in der Lage sein, in einen Dialog mit den Kindern einzutreten und kreative Lernprozesse zu verwirklichen.

Dies alles ist wirklich nicht neu. Über die Stofffülle hat beispielsweise Martin Wagenschein sehr viel konkreter, zielgerichteter nachgedacht als die heutigen Apologeten der Reformpädagogik. Wagenschein möchte die Stofffülle auf das „Exemplarische“ reduzieren und gibt hierzu auch eine Fülle konkreter Beispiele.

Ähnliche praktische Auseinandersetzungen für besseres Lernen vermisst man in den Debatten über Bildungsprozesse. Stattdessen herrscht viel Ideologie.

„Beziehung im Klassenzimmer“

Seit Ellen Keys „Jahrhundert des Kindes“ vor über hundert Jahren wird „Beziehung“ als Indikator für eine gute Pädagogik beschworen. Die Reformpädagogik hat sich stets darauf berufen. Doch was heißt Beziehung eigentlich ganz konkret? Viele deutsche Reformpädagogen schmücken sich mit diesem Attribut und halten es nicht für nötig, es zu definieren. Es ist, als könnte ein Arzt damit davonkommen, dass er lediglich eine Diagnose stellt und im Übrigen meint, er sei für eine genaue Vorgehensweise der Therapie nicht zuständig.

Was heißt also beispielsweise die Kategorie „Beziehung im Klassenzimmer“? Woran erkennt man, dass ein Pädagoge zu Dutzenden Kindern eine Beziehung pflegt, die in jedem einzelnen Fall aber auch anders geartet sein muss, weil ja jedes Kind eine einzigartige Persönlichkeit ist. Eine komplexe und unmöglich zu bewältigende Herausforderung. Was zum Beispiel heißt Gleichheit in diesem Fall, was gleiche Behandlung aller Kinder? Soll der Lehrer alle Schüler in den Arm nehmen?

Wenn ein Unterrichtskonzept alle Kinder entsprechend ihren Anlagen anzusprechen vermag, dann kommen auch ganz unterschiedliche Vorgehensweise der Kinder zum Vorschein. Individualität ist somit eine Frage der handwerklichen Kompetenz.

Schlage ich in einem Lexikon nach, dann wird der Begriff „Beziehung“ mit Synonymen wie „Verbindung“ oder „Zusammenhang“ gleichgesetzt. Frage ich aber einen Reformpädagogen nach dem Sinngehalt von „Beziehung“, dann bekomme ich in der Regel als Antwort: „Nähe zum Kind“, „Zärtlichkeit“.

Aber was bedeutet denn Nähe, wenn man als Lehrer innerhalb eines Tages mehrere Dutzend Lernende betreuen muss? Hat Zärtlichkeit in einem Klassenzimmer überhaupt etwas verloren? Was bedeutet dann der Begriff „Reformpädagogik“ in der Schulwirklichkeit von heute?

Methoden des Lernens und Lehrens

Von Reformpädagogik kann man meiner Meinung nach sprechen, wenn es auf der Grundlage von neuen Erkenntnissen um die Modifizierung und Verbesserung der obwaltenden Konzepte und Methoden des Lernens und Lehrens geht, nämlich um die Reform des didaktischen und pädagogischen Handelns. Doch die deutschen und die schweizerischen Gelehrten der Reformpädagogik haben ein anderes Verständnis dieses Begriffs.

Dies wird auch deutlich, wenn man Herrn Largo mit der Frage nach dem Begriff „Nähe zum Kind“ konfrontiert. Welche Beziehung hat Herr Largo zu den Kindern und Jugendlichen? Ich frage dies, weil mir schwindelig wird zu lesen, wie Herr Largo auf die Frage reagiert, ob die Reformpädagogik nach dem Skandal unter die Räder gekommen ist.

Er sagte dazu auf Spiegel-Online. „Viele haben vor Freude aufgejault ob der Gelegenheit, die Reformpädagogik abzuschießen. Da kann ich nur mit den Schultern zucken. Es geht in den Kritiken nur um Haltungen, nicht um Argumente. Ich bleibe dabei: Vertrauensvolle Beziehungen sind die Grundlage jeder Pädagogik – in der Familie wie auch in der Schule. Und: Eltern und Lehrer können der Verschiedenheit von Kindern nur gerecht werden, wenn sie sich auf jeden Schüler auch emotional einlassen und jedes Kind individuell behandeln.“

Herr Largo geht mit keiner Silbe auf die Katastrophe an der Odenwaldschule ein. Es bekümmert ihn offensichtlich nicht, dass aus Nähe und Beziehung dort über 20 Jahre hinweg systematisch sexuelle Gewalt und Missbrauch wurden. Nicht von allen Lehrern – aber von einer Handvoll in einem 30-Personen-Kollegium, also von 15 Prozent der Lehrerschaft. Mehrere Opfer des Missbrauchs haben sich das Leben genommen, Dutzende von Biografien sind zerstört worden, Hunderte von Kindern wurden missbraucht. Vom „Aufjaulen vor Freude“, die „Reformpädagogik abzuschießen“ zu sprechen, klingt in diesem Zusammenhang mehr als zynisch.

Scham und Schmerz

Hier kann es nur ein Aufjaulen vor Scham und Schmerz geben. Denn dies alles geschah unter dem Deckmantel der Reformpädagogik und explizit unter der Tarnkappe der Propagierung einer Beziehung, „die dem Aufwachsen nützt“. Gerold Becker, damaliger Schulleiter der Odenwaldschule, stellte „Beziehung“ in den Mittelpunkt des Lernens an der Schule. „Mit der Schulreformerei ist Schluss, jetzt geht es um Pädagogik“, sagte er, als er die Schule übernahm.

Bis zum heutigen Tag gibt es unter den Gelehrten der Reformpädagogik deutscher Prägung nur Abwehr. Ihnen geht es tatsächlich nicht um das Wohl des Kindes, sondern um die Rettung einer Ideologie. Einer Ideologie, die sich rein auf den historischen Kontext ihrer Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts orientiert. Doch inzwischen haben wir andere Wirklichkeiten. Wir haben andere Lernbedingungen, anders sozialisierte Kinder und andere Wahrnehmungsmöglichkeiten der Welt.

Jede Entwicklung bedeutet Veränderung, und auch die Pädagogik muss eine Antwort auf die Veränderungen finden. Ernüchternd, dass der populäre Ratgeber, Remo Largo, ausblendet, was seiner Ideologie schaden könnte.

Was bedeutet „Nähe zum Kind“? Ist mit dem Charakter einer Beziehung die körperliche Nähe, die emotionale Nähe oder eine angemaßte Nähe gemeint, die übergriffig wird? Je mehr ich darüber nachdenke, umso diffuser werden mir die Rufe nach Beziehung zu Kindern. Ich denke, dass Kinder in erster Linie darauf vertrauen müssen, dass sie ernst genommen werden. Jemanden ernst nehmen bedeutet, dass ich mich darum bemühe, seine Sicht der Welt zu erkennen. Denn nur so kann ich sie verstehen.

Nüchterne Aufgabe Pädagogik

Verstehen im Sinne der Pädagogik bedeutet auch, dass ich mich um eine Lernatmosphäre bemühe, die Kinder ermutigt, sich selber und ihre Welt besser zu verstehen. Es ist also vielmehr eine Frage der inneren Haltung und der klaren Strukturen als die der sogenannten Beziehung zu Kindern. Pädagogik ist eben eine sehr nüchterne Aufgabe, bei der das Handwerkliche die größte Bedeutung hat. Ein guter Pädagoge zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, dass er gelernt hat, sich selber zu verstehen. Denn nur dann kann er auch die Kinder verstehen.

Sich selber und die Kinder verstehen lernt man dadurch, dass man eine kreative Distanz zu sich selber, den Kindern – also insgesamt zu seinen Handlungen – bewahrt, damit man seine Fehler entdecken und mit analytischem Verstand sein Tun betrachten kann.

Das sind hohe Anforderungen an die Person der Lehrenden. Doch zugleich sind sie, gemessen an der Verantwortung der Pädagogen, das Mindeste, was man erwarten kann. Denn die Zukunft der Kinder können wir nicht vertagen oder dem Zufall überlassen.

Pädagogisches Handeln ist in der Tat die Suche nach kognitiven und emotionalen Verbindungslinien, die Zusammenhänge sichtbar machen, die für die Lehr- und Lernprozesse bedeutsam sind. Wieder einmal lerne ich, dass Lexika hilfreicher sind als pädagogische Statements.

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