Die EU vor der Europawahl 2024: Moralisch-demokratisches Korrektiv
Die EU steht unter anderem wegen ihrer Flüchtlingspolitik in der Kritik. Zu Recht. Und doch ginge es ohne die EU vielfach brutaler und ungehemmter zu.
I n der vergangenen Woche war ich mit einer Delegation in Griechenland. Auf dem Programm standen Gespräche mit Ärzt:innen, Helfer:innen und Geflüchteten. Sie berichteten Erschreckendes, wenn auch nichts Neues: Folter durch die Grenzpolizei, Tote bei Pushbacks, abgelehnte Asylsuchende ohne jeden Anspruch auf Lebensmittel. Am Ende sagte eine Delegationsteilnehmerin, was alle dachten: Das kann doch nicht wahr sein, dass da keiner was macht. Es lag auf der Hand, wer das sein müsste: die Europäische Union.
Die EU hat zwei Dinge, die heute nicht selbstverständlich, nicht ersetzbar, nicht verzichtbar sind: Moralisch-zivilisatorische Ansprüche, an denen sie festhält, obwohl sie dauernd selbst gegen diese verstößt – deren Einhaltung sich aber einfordern lässt. Und Einflussmöglichkeiten auf Regierungen in einem Maß, das es sonst nicht gibt.
Die Zivilgesellschaft kann protestieren, praktische Solidarität leisten. Aber viele ihrer Interventionen zielen darauf ab, dass Institutionen mit Macht eingreifen und Dinge verändern. Viele, denen Menschenrechte wichtig sind, sehen in der EU heute vor allem ein Projekt der Gewalt, eine Festung Europa: Frontex, Pushbacks, Tote im Meer und in der Wüste, Lager, Internierung, Gewalt, Zäune, kriminalisierte Seenotretter:innen, Asylrechtsabbau, Kollaboration mit Verbrechermilizen. Und es sind nicht nur die Grenzen: Zu schwacher Klimaschutz, Ermöglichen von Massenüberwachung, neoliberale Sozialpolitik, das fällt vielen zur EU ein. Und dafür gibt es gute Gründe.
Doch wer die EU darauf reduziert, verkennt eins: Könnten die Nationalstaaten heute so agieren, wie sie wollten, wäre vieles schlimmer. Es ginge brutaler zu, ungehemmter. Die EU ist, trotz allem, auch ein moralisch-demokratisches Korrektiv. Ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten verschafft ihr einen besonderen Einfluss, weit stärker als jener des Europarats, der Vereinten Nationen oder anderer nationaler Regierungen. Das ist nicht nur wegen des Geldes so, das aus Brüssel fließt. Es ist das institutionelle Geflecht, eine liberal geprägte politische Kultur, geteilte Normen, gewachsene Kooperation.
Länder können leicht in die Hände von Autokraten fallen
Nun könnte man sagen: Was nützt das? Offensichtlich hindert die EU ja beispielsweise Griechenland keineswegs daran, all die Rechtsverstöße zu begehen. Vielmehr zahlt sie viel Geld dafür, fordert unter anderem den Außengrenzenschutz, der all die schlimmen Dinge hervorbringt, aktiv ein.
Aber dieser Blick greift zu kurz. Ungarn oder bis vor Kurzem Polen zeigen, wie leicht nationale Regierungen in die Hände von Autokraten fallen können, die ganz offensiv Mindeststandards aufkündigen, Gesetze ignorieren. Kritische Medien, Zivilgesellschaft, demokratische Institutionen werden plattgemacht, Frauen- und Minderheitenrechte ebenso, die einzige Asylpolitik heißt: Knüppel frei.
Hoffnungen richten sich dann meist auf die EU. Auf wen sonst? Sie hat Möglichkeiten der Intervention. Und man kann versuchen, sie auf ihre Verfasstheit mit Mindeststandards und garantierten Rechten festzunageln. Das schafft einen gewissen Schutz, Haltelinien, Spielräume, wenn Regierungen ins Autoritäre kippen. Wie weit dieser Einfluss dann auch in einem prodemokratischen, fortschrittlichen, menschenrechtlichen Sinne genutzt wird, ist eine andere Frage.
Die Kommission versagt moralisch, wenn ihre Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU) wie im Februar 2020 Griechenland als „unseren Schild“ lobt, während am Evros mit aller Gewalt gegen Migrant:innen vorgegangen wird. Die EU versagt, wenn Ratspräsident Charles Michel Spanien und Marokko versichert, man unterstütze die Länder „voll und ganz“, nachdem am Grenzzaun von Melilla an einem einzigen Tag mindestens 27 Menschen getötet werden, wie im Juni 2022.
Die EU versagt, wenn sie die Sprachregelung der „hybriden Bedrohung“ übernimmt, mit der Polen 2021 seine gewaltsamen Massenpushbacks nach Belarus rechtfertigte. Und die Kommission versagt politisch, wenn sie allzu zögerlich ihre Handhabe gegen Regierungen wie jene in Ungarn oder bis vor Kurzem in Polen einsetzt. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.
Der Einfluss Rechtsextremer wächst
Denn die EU-Institutionen sind umkämpft, der wachsende Einfluss Rechtsextremer zeigt Wirkung, ebenso die Rechtsdrift der etablierten Parteien. Nicht zu Unrecht nannte die Linke Cornelia Ernst das neue Asylsystem GEAS einen „historischen Kniefall vor den Rechtspopulisten Europas“. Aber die EU hat eben nicht nur diese Seite.
Als die Türkei 1999 EU-Beitrittskandidatin wurde, ließ die Regierung dort massenhaft foltern. Die EU verlangte als Vorbedingung für Beitrittsgespräche, dass alle Verhafteten zu Beginn und dann wieder vor der Entlassung einem Arzt vorgeführt werden, damit mögliche Folterspuren entdeckt werden und die Hemmschwelle für Folter steigt. Man kann das bigott finden, doch eine mit solchen moralischen Ansprüchen nach außen bis heute oft auftretende EU ist unbestreitbar ein Fortschritt gegenüber Verhältnissen, in denen Folter offen befürwortet wird.
„Nach der zweiten oder dritten Warnung – bumm. Dann schießt die Kanone, ohne noch viel zu reden. Die Kanone tötet. Sonst kommen wir nie zu einem Ende“, so wollte einst der italienische Rechtspopulist Umberto Bossi den Flüchtlingsbooten entgegentreten. Als die Postfaschistin Giorgia Meloni 2022 ins Amt kam, hatte sie angekündigt, tatsächlich die Marine einzusetzen. Doch bisher zumindest unterscheidet sich ihre Regierungsführung nicht allzu sehr von jener der Vorgänger. Und das hat zweifellos mit der Einhegung durch die EU zu tun.
Die EU ist nicht gut, so wie sie ist. Sie ist ein unperfektes System, ohne Garantien. Doch gäbe es oberhalb der Staaten nichts mehr, dann wäre der Weg zur Gewalt oft noch viel kürzer. Deshalb ist es so wichtig, ihre Verfasstheit gegen die drohende weitere Aushöhlung durch Rechtsextreme zu verteidigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“