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Essay Russische KrisenpolitikDie Panik vor der Panik

Kommentar von Immanuel Wallerstein

Die Angst in Russland vor den Folgen der fehlenden Einnahmen ist groß. Und fast jeder glaubt, dass der Westen sich gegen das Land verschworen habe.

Ausgaben reduzieren oder nicht? Putin scheint einen Mittelweg zu favorisieren – T-Shirts in einem Geschäft in Moskau. Bild: reuters

W enn man wie ich aus dem globalen Norden stammt, dann bedeutet ein Russlandbesuch eine seltsame Erfahrung. Als ich kürzlich dort war, stellte ich überrascht fest, dass die allermeisten Russen eine völlig andere Sichtweise auf die gegenwärtigen Entwicklungen in der Welt haben als die Mehrheit im „Westen“. Ihre Sorge gilt ganz anderen Dingen als den „unseren“.

Gemeinsam scheint uns nur die Wahrnehmung zu sein, dass die rasant fallenden Preise für Öl und Gas in der Kombination mit dem Embargo Russland massiv unter Druck setzen – und zwar sowohl was Staatsausgaben angeht als auch den individuellen Konsum.

In Russland glaubt fast jeder, und zwar abhängig von seiner politischen Ausrichtung, dass der Westen sich gegen das Land verschworen habe – allen voran die USA im Bündnis mit Saudi-Arabien und Israel. Russland solle für seine Untaten „bestraft“ werden, dabei verteidige Russland nur auf völlig legitime Weise seine Interessen.

Bild: imago/ITAR-TASS
Immanuel Wallerstein

ist ein US-amerikanischer Sozialwissenschaftler. Seine frühe Kritik am globalen Kapitalismus und sein Eintreten für „antisystemische Bewegungen“ haben ihn, ähnlich wie Noam Chomsky und Pierre Bourdieu, zu einer grauen Eminenz der Globalisierungskritik innerhalb und außerhalb der Wissenschaft gemacht.

Zu seinen Klassikern zählt „Rasse, Klasse, Nation“ (mit Étienne Balibar, 1988).

Im Mittelpunkt der Debatte steht natürlich die Ukraine, im geringeren Maße aber auch Syrien und Iran. Die Verschwörungstheorie wird meiner Ansicht nach etwas übertrieben, immerhin begannen die USA bereits 1973 damit, sogenanntes Hightechöl zu fördern. Das war ihre Antwort auf den steigenden Ölpreis (womit sie wesentlich zum aktuellen Ölüberschuss beigetragen haben).

Die Staatsreserven angreifen

Von der russischen Außenpolitik indessen hört man in Russland wenig. Das hängt wohl damit zusammen, dass es kaum Widerspruch gegen die offizielle Außenpolitik gibt, selbst nicht von Leuten und Gruppen, die Putin an anderer Stelle durchaus kritisieren. Stattdessen wird intensiv diskutiert, wie der Staat mit den akut schrumpfenden Einnahmen umgehen sollte.

Hier nun finden sich im Prinzip drei Positionen: Die eine will die Ausgaben signifikant reduzieren. Das könnte man als die neoliberale Position bezeichnen. Sie wird auch vom Finanzminister vertreten. Die zweite fordert, dass der Staat seine Reserven angreift und so unmittelbar den Druck vermindert, die Ausgaben zu reduzieren. Das wäre die sozialdemokratische Variante. Sie wird vom Minister für wirtschaftliche Entwicklung vertreten.

Die dritte will nur die eine Hälfte der Reserven antasten und die andere Hälfte unberührt lassen. Diese Mittelwegpolitik würde Stabilität für die nächsten 18 Monate gewährleisten. Sie setzt darauf, dass die Preise für Öl und Gas bis dahin wieder ansteigen und/oder die Sanktionen wieder annuliert werden beziehungsweise weiträumig umgangen werden können.

Alle drei Positionen werden innerhalb der relativ kleinen Gruppe von Entscheidern um Putin herum vertreten. Putin selbst scheint bislang den Mittelweg zu favorisieren. Bemerkenswert ist auch, dass die Debatte quasi öffentlich geführt wird. Jeder Russe, der sich für Politik interessiert, kennt sie, und auch der Presse wird viel durchgestochen. Aber die ist ohnehin diversifizerter, als im Westen weithin angenommen wird.

Medwedjew hat keine Angst

Doch diese halb öffentliche Debatte birgt auch eine Gefahr. Russische Unternehmer, Banken und auch die allgemeine Öffentlichkeit (zumal der wohlhabendere Teil) könnten schon bald in Panik verfallen, weil sie fürchten, dass die finanziellen Ressourcen abgezogen werden. Das wiederum würde zu einem Run auf die Banken und einer massiven Inflation führen. Greift eine solche Panik um sich, können keine der drei bereits skizzierten Optionen noch etwas ausrichten und also dem russischen Staat dabei helfen, den finanziellen Engpass zu überstehen.

Am 14. Januar hielt Premierminister Dmitri Medwedjew im Rahmen der Wirtschaftskonferenz Gaidar Forum eine viel beachtete Rede. Er kündigte an, dass Russland den Mittelweg gehen werde, und bat alle, es in dieser Entscheidung zu unterstützen, um just die aufkommende Panik zu ersticken. Er beendete seine Rede mit dem berühmten Zitat von Franklin D. Roosevelt von 1933: „Das Einzige, das wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.“ Die russische Regierung, sagte Medwedjew, habe keine Angst.

Doch ob Statements aus dem Kreml ausreichen, eine Panik zu verhindern? Der Rede Medwedjews zumindest ist das noch nicht gelungen. Sie machte vielmehr deutlich, wie viele Leute damit rechnen, dass die Panik erst noch kommen wird. Wir haben es also mit einer Panik vor der Panik zu tun.

Putin versucht nun, diese Panik vor der Panik einzuhegen, und zwar mit Maßnahmen, die er für eine sorgsam abgewogene, aber starke und klare Außenpolitik hält. Die Entscheidung, die sogenannte South-Stream-Pipeline – die Gas und Öl aus dem Schwarzen Meer von Russland nach Bulgarien transportieren sollte, nun aber von Bulgarien im Zuge der Sanktionen blockiert wird – durch eine Pipeline zu ersetzen, die von Russland in die Türkei geht, ist ein erster Schritt in diese Richtung.

Eine Pipeline mit China

Beide Pipelines tun der Ukraine finanziell weh, denn sie umgehen jeweils ihr Terrain. Damit entfallen für sie die mit einem Transit einhergehenden Einnahmen. Die Türkei hingegen wird mit dem gemeinsamen Energieprojekt zu einem wichtigen Verbündeten Russlands aufgewertet.

Ein zweiter Schritt war die Entscheidung, sich mit China und anderen Ländern zu einigen, in Währungsgeschäfte mit deren eigenen Währungen einzutreten, um so die Fluktuation des Dollars zu umgehen. Ein Ergebnis dieser Geschäfte ist der Bau einer Pipeline durch Sibirien bis Nordostasien, die finanziell von China massiv gefördert wird. Auch so lassen sich die Sanktionen umgehen.

Ein dritter Schritt besteht in der Ankündigung, dass S-300-Flugabwehrraketen in den Iran verlegt werden. Lange versprochen, hatte Russland diese Vereinbarung 2010 auf Eis gelegt – auf Druck des Westens hin. Nun aber schickt Russland sich an, seiner Zusage von damals nachzukommen. Das erlaubt Russland, Irans Einschluss in den Entscheidungsprozess in Westasien zu befördern.

Waffen, aber keine Kontrolle

Jeweils wird so Druck auf die USA ausgeübt und außerdem Saudi-Arabiens Versuch getestet, sich als der zentrale Staat der sunnitischen Araber zu etablieren. Nach dem Tod vor wenigen Wochen des 90-jährigen Königs Abdul und der Machtübernahme durch den 79 Jahre alten Prinz Salman hat die Diskussion über die Fragilität des Landes in den Medien bereits deutlich an Fahrt aufgenommen.

In der Ukraine schließlich verfolgt Putin eine ambivalente Politik. Ohne die Separatisten in Donezk/Luhansk vollständig unter Kontrolle zu haben, stellt er sicher, dass diese militärisch nicht ausgeschaltet werden können. Für einen wirklichen Frieden verlangt Russland die Zusicherung der Nato, dass die Ukraine kein potenzielles Nato-Mitglied ist. In der Nato selbst gehen die Meinungen darüber auseinander. Alle spielen in der Ukraine auf hohes Risiko.

Auf lange Sicht, so ist meine Vermutung, wird sich die Vernunft durchsetzen und eine politische Übereinkunft erzielt werden. Angela Merkel und auch Deutschland wollen ja eine politische Lösung, aber noch sind ihnen offenbar die Hände gebunden, sie auch herbeizuführen.

Aus dem Englischen von Ines Kappert. Der Text erschien zunächst auf agenceglobal.com

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2 Kommentare

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  • " Für einen wirklichen Frieden verlangt Russland die Zusicherung der Nato, dass die Ukraine kein potenzielles Nato-Mitglied ist."

     

    Damit will Russland der Ukraine den Status als souveräner Staat verweigern. Schöne neue Welt...

  • Tut ausgesprochen gut, so ein Artikel, der mögliche Optionen aufzeigt und es dem Leser überlässt, sich ein Urteil zu bilden. Das wünschte ich mir öfter, nicht nur in der TAZ.