Die Republik Gezi-Park: Die Internationale der Ignoranz
Wenn die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzt, siegt Erdogan. Doch der Gezi-Park verkörpert den europäischen Gedanken nicht: er übertrifft ihn.
Prolog
Es war einmal ein Land. Es lag im Herzen Istanbuls. Es erstreckte sich über einen Park mit Brunnen, bevölkert von sieben Dutzend Zelten. In diesem Land sagte man, was man sagen wollte, frei und mutig. Man interessierte sich füreinander, man erkannte Unrecht und sprach darüber. Man half sich. Man fühlte sich verantwortlich für das, was man gemeinsam aufgebaut hatte. Die Bürger dieses Landes waren unterschiedlich, aber sie begegneten sich mit Respekt. Sie glaubten nicht an dasselbe, aber das war kein Problem. Wenn jemand Hunger hatte, dann gab man ihm zu essen. Wenn jemand Durst hatte, dann gab man ihm zu trinken. Wenn jemand stolperte, dann half man ihm auf. Das Land heißt Gezi.
Gezi und seine Gegner
Gezi hat viele Freunde, aber auch Feinde. Denn so sehr sich Gezis Bürger darauf verlassen konnten, dass ihr Protest gegen Erdogan jenseits der Landesgrenzen unterstützt und wahrgenommen wird, mit Demonstrationen in Berlin, mit Plakaten in São Paulo, so sicher konnte sich Erdogan im selben Moment sein, dass seine Borniertheit grenzüberschreitend Entsprechung fand. Es gibt eben nicht nur eine Internationale des Protests, der Würde und der Selbstbestimmung. Es gibt auch eine Internationale der Ignoranz. Das belastet das Verhältnis der Türkei zu Europa, das belastet auch andersherum das Verhältnis Europas zur Türkei.
Die Spirale aus Stolz, Abwendung und Vorurteil, die Erdogan in Bewegung brachte und die er mit martialischer Rhetorik und brutaler Polizeigewalt beschleunigte, wird in Europa weitergedreht – es gibt Profiteure dieser Dynamik, auf beiden Seiten. Es gibt auf beiden Seiten jene, die mit dem Stillstand der Beitrittsverhandlungen sehr gut leben können – mehr noch: die jetzt ein Ziel erreicht haben.
Zum Beispiel, auf der einen Seite, Erika Steinbach, die Vorsitzende der „Arbeitsgruppe Menschenrechte und Humanitäre Hilfe“ der Unionsfraktion im Bundestag. Sie steht beispielhaft für jene Türkei-Kritiker, die die Bilder aus Istanbul, aus Izmir, aus Ankara reflexartig ausbeuten: Seht her, dieses Land gehört nicht zu uns!
Während in der Türkei Zehntausende für ihre Rechte demonstrierten, gab sie eine Pressemitteilung heraus, in der sie feststellte, dass dieses Land nicht der Europäischen Union beitreten könne. So als suche sie nur Beweise für ihr Vorurteil. So als sei es die vordringlichste Sorge jener Menschen, die gerade im Pfeffergas ersticken, in welche Richtung sich nun der Beitrittsprozess entwickelt. Erika Steinbach steht beispielhaft für jene Türkei-Kritiker, die nicht hinter das Pfeffergas, nicht hinter die Wasserwerfer blicken. Sie ist getrieben von einem Ressentiment, von latentem Rassismus.
Sie und ihre Anhänger wollen nicht wahrhaben, dass es eine Republik Gezi gibt. Sie müssten einsehen, dass Gezi dem europäischen Gedanken nicht nur entspricht – sondern ihn sogar übertrifft. Für Steinbach und ihre Anhänger läuft es gut, solange Recep Tayyip Erdogan unnachgiebig bleibt.
Zu Steinbachs Vorurteil passt, auf der anderen Seite, der Stolz des türkischen Ministerpräsidenten. Wenn sich die Europäische Union von der Türkei abwendet, dann fühlt sich Erdogan bestätigt, dann geht er noch härter, noch unnachgiebiger vor. Er wartet nur darauf, tun zu dürfen, was er will. Über den Abbruch der Beitrittsverhandlungen freut er sich im gleichen Maße, wie sich auch Erika Steinbach freut. Steinbach und Erdogan sind Geschwister im Geiste, sie verbindet die Internationale der Ignoranz. Sie beide arbeiten am selben Projekt: gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union – und gegen die Republik Gezi.
Wer glaubt, die Beitrittsverhandlungen seien ein Druckmittel, um den wild gewordenen Premier zu zähmen, der erliegt dem Fehlglauben, dass Erdogan sein Land noch immer Richtung Europa steuern will. Gewiss war er anfangs angezogen vom Appeal der europäischen Wirtschaftskraft, die Anziehung hat aber nachgelassen – wie die europäische Wirtschaftskraft selbst. Gleichzeitig begann die türkische Wirtschaft zu boomen, das Land zu wachsen und mit ihm das Selbstbewusstsein ihres Premiers. Er fühlt sich jetzt allmächtig, er will die Regeln des Spiels bestimmen.
Unter der Bedingung des europäischen Gedankens, unter der Bedingung von Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit will Erdogan nicht mehr in die Europäische Union: In der Abwägung zwischen Bürgerrechten und Shopping-Mall wird er sich immer für Letzteres entscheiden. Für Erdogan und seine Anhänger läuft es gut, solange sich Europa abwendet. Erdogan glaubt, ohne Europa auszukommen.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Beitrittsverhandlungen kein wirksames Druckmittel sind, um Erdogans Politik zu beeinflussen: die Identitätskrise der Europäischen Union.
Wie soll man den türkischen Premier von Meinungs- und Pressefreiheit überzeugen, während man im Zentrum Europas, in Griechenland, aus Kostengründen das Staatsfernsehen abschaltet? Wofür entscheidet sich Europa eigentlich in Zeiten der Krise: für die Bürgerrechte oder für die Shopping-Mall?
Epilog
Die Republik Gezi wurde ausgelöscht von jenen, die sich vor ihr fürchteten: ausgeräuchert wie ein Wespennest, in wenigen Minuten. Aber die Republik starb nicht, sie blühte auf, sie ist jetzt überall: Bewacht vom stillen Steh-Protest des Künstlers „duran adam“, bevölkert von abendlichen Bürgerforen, besungen von der Rockgruppe Duman. Diese Republik wird die Drohungen Erdogans überstehen und das Desinteresse Erika Steinbachs, sie wird pluralistisch und demokratisch bleiben. Sie wird überleben, egal wie oft die deutsche Regierung den türkischen Botschafter einbestellt – egal wie oft die türkische Regierung den deutschen Botschafter einbestellt.
Sie wird leben, solange sich Menschen treffen, um über sie zu reden. In Wahrheit erlebt die Türkei eine Sternstunde der Demokratie. Denn wenn es im Moment ein Land gibt, das jenes Europa verkörpert, wie es sein sollte, dann ist es dieses: die Republik Gezi. Solidarisch, friedlich, pluralistisch, mutig, frei.
Europa kann sich auf dieses Land freuen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen