Debatte Steinbrück: Der Mann, der kein Schach kann
Noch nie ist ein Kanzlerkandidat so beschädigt in den Wahlkampf gestartet wie Peer Steinbrück. Er ist eine Fehlbesetzung und sollte zurücktreten.
F ür einen Moment nur muss man sich vorstellen, wie glänzend die SPD zum Auftakt der Bundestagswahl 2013 dastehen könnte. Peer Steinbrück wäre ein Kandidat, über dessen persönliche Integrität nicht diskutiert werden müsste; in Hannelore Kraft stünde eine Ersatzkandidatin bereit, falls Steinbrück ausfällen würde oder intern nicht durchsetzbar wäre; und in Hessen wäre seit fünf Jahren eine rot-rot-grüne Koalition an der Regierung, die den Bann gegen Koalitionen mit der Linkspartei im Westen gebrochen hätte. All das ist bekanntlich nicht der Fall. Und alles hat die SPD selbst vermasselt.
Die Steinbrück’sche Vortragsaffäre, die den Sozialdemokraten den Wahlkampfauftakt gründlich verhagelt, besteht im Grunde aus zwei Teilen. Der erste betrifft eine eher lässliche Sünde: seine Reden bis zur Aufnahme in die Troika der Kanzlerkandidaten. Steinbrück drehte seine Runden als Exminister, der mit seinem Namen noch einmal abkassierte. Nur auf sein Bundestagsmandat hätte er besser verzichten sollen.
Etwas anderes sind die Vorträge danach. Und zwar nicht einmal so sehr wegen des Verdachts der Einflussnahme auf einen zukünftigen Kanzler und der sozialdemokratischen Selbstbedienung bei den Stadtwerken Bochum, sondern weil Steinbrück geradezu naiv in die Affäre geschlittert ist. Über ein Jahr zog der Kandidat von Sparkasse zu Sparkasse, ohne auf die Idee zu kommen, dass ihm die Vorträge später Schwierigkeiten bereiten können.
ist Redakteur im Meinungsressort der taz.
Frühzeitig sichtbare Gefahren für die eigene Politik wahrzunehmen, gehört aber zum politischen Kerngeschäft. Wer das nicht kann, ist in Spitzenpositionen fehl am Platz. Wer sollte einem Politiker, der nicht einmal offensichtliche Probleme für die eigene Karriere wahrnehmen kann, glauben, dass er Gefahren für die Wähler rechtzeitig spürt?
Steinbrück ist der Mann, der Schach nicht kann, lautet die Botschaft seiner Vortragsaffäre. Schach spielen heißt, ein paar Züge im Voraus zu denken. Die SPD hätte misstrauisch werden können, als Steinbrück ausgerechnet die Inszenierung als Stratege misslang: auf dem Titelfoto seines Buchs mit Helmut Schmidt, auf dem sich beide als Schachspieler in Szene setzten. Das Spielfeld war verdreht aufgebaut. Steinbrück hat es offenkundig nicht geschafft, ein Team um sich zu scharen, das solche Schnitzer bemerkt.
Jubeltruppen und Abnicker
Auch die SPD-Spitze hat die Vortragsaffäre seltsam verschlafen, Sigmar Gabriel vorneweg. Offenkundig hat es kein Gespräch unter vier Augen gegeben, das Steinbrücks Vita frühzeitig auf mögliche Angriffspunkte abklopfte, keine Treffen mit PR-Beratern, keine Hinweise auf das Problem aus Landes- und Ortsverbänden – nichts. Dabei waren die umfangreichen Nebenverdienste Steinbrücks seit Längerem bekannt. Solche Fehler machen politische Anfänger – und diejenigen, die zu lange im Geschäft sind und dabei das Gespür für politische Stimmungen verloren haben.
Die SPD bezahlt jetzt den Preis dafür, dass sie seit der Schröder-Ära innerparteiliche Debatten unterbunden hat: für das seltsame Nominierungsverfahren, in dem Gabriel den einfachen Abgeordneten Steinbrück im Alleingang erst zum Teil der Troika erklärte und dann zum Kandidaten; für die Degradierung der Parteigremien zu Abnickveranstaltungen zuvor getroffener Beschlüsse; für die Demütigungen der Jusos, deren vorsichtiger Protest gegen die Agenda 2010 zum Karrierehemmnis wurde; und für die stattdessen gehätschelten sogenannten Jungen Teams – eine bloße Jubeltruppe für den Wahlkampf.
Übertreibt man es mit innerparteilichen Streitigkeiten, endet man wie die Piraten, übertreibt man es mit der innerparteilichen Geschlossenheit, endet man wie die SPD. Eine negative Elitenauswahl findet statt: In der Partei kommen die nach oben, die nichts dabei finden, für Kandidaten zu werben, über die sie nicht entscheiden durften. Wer das nicht aushält, geht.
Von denen, die bleiben, fühlt sich kaum jemand mehr für irgendetwas verantwortlich, das nicht im eigenen kleinen Zuständigkeitsbereich liegt. Weshalb sollte etwa ein junger Abgeordneter auf die Idee kommen, über Steinbrücks Nebenverdienste nachzudenken – und sich durch Nachfragen Ärger einhandeln? Dafür war Gabriel zuständig, der das Problem nicht sah.
Nicht, dass der Parteilinke von diesem Klima unbeeinflusst bliebe und mehr Bewusstsein für politische Gefahrensituationen hätte. Siehe Andrea Ypsilanti, die bei ihrem Vorstoß für ein rot-grün-rotes Bündnis in Hessen 2008 die innerfraktionelle Minderheit trotz knapper Zwei-Stimmen-Mehrheit nicht einband. Dass die Stimmung bei vier Abgeordneten kippte, hatte sie nicht auf der Rechnung.
Kraft verschärft die Krise
Und was ist mit Hannelore Kraft, die im Frühjahr das Gutachten der Landtagsjuristen über das Prozedere bei Haushaltsabstimmungen nicht vorhersah? Aus Landessicht hat sie mit ihrer Ad-hoc-Entscheidung, Neuwahlen anzusetzen, alles richtig gemacht. Aber weil sie um das Bekenntnis, nach ihrer Wiederwahl in Nordrhein-Westfalen zu bleiben, nicht herumkam, verschärft sie die jetzige SPD-Krise.
Peer Steinbrück müsste nämlich unter normalen Umständen jetzt zurücktreten. Noch nie ist ein Kanzlerkandidat so beschädigt in den Wahlkampf gestartet, noch nie musste sich jemand in den ersten Wochen seiner Kandidatur so intensiv mit Fragen nach der persönlichen Integrität beschäftigen. Der erhoffte Nominierungseffekt ist verpufft. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass Steinbrücks Umfragewerte wieder steigen; eine Eskalation der Eurokrise würde sicher helfen. Nur: Eine vernünftige Wahlkampfstrategie sieht anders aus.
Aber wen könnten die Sozialdemokraten stattdessen aufstellen? Gabriel und Steinmeier würden jetzt als zweite Wahl erscheinen, Kraft als Wahlbetrügerin gehandelt werden. Aus der zweiten Reihe der Bundes- oder Landespolitik drängt sich niemand als Kandidat auf. Und dennoch: Steinbrücks Rückzug wäre besser als das Festhalten an einem beschädigten Kandidaten. Wer immer von der SPD aufstellt würde, hätte das Argument für sich, dass in der Stunde der Not nur außergewöhnliche Maßnahmen zur Rettung verhelfen.
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