Debatte Russlands Rolle in der Welt: Der große Pragmatismus
In der sich formierenden neuen Weltordnung sieht Außenminister Steinmeier die EU nicht in führender Rolle. Russland aber soll sich ihr unterordnen.
W eitergehende Sanktionen könnten in Russland zu einem wirtschaftlichen und politischen Kollaps führen, zumal das Sinken des Ölpreises das Land erheblich schwächt. Für den Westen hätte ein solcher Kollaps unabsehbare Folgen. Das verkündete der deutsche Außenminister Steinmeier am 27. November auf dem Wirtschaftstreffen der Süddeutschen Zeitung. Er ist offenbar wirklich besorgt.
Steinmeiers Stellungnahme entspricht seinem bisherigen Bemühen, den Konflikt nicht aufzuheizen und doch den durch divergierende Interessen bestimmten Kampf gegen Russland nicht zu schwächen. Dass er ausgerechnet in diesem Zusammenhang auch für das TTIP-Abkommen warb, zeigt, dass er die sich verschiebenden globalen Machtverhältnisse im Blick hat, innerhalb deren Europa bei stotternder Währung und trotz wirtschaftlicher Scheinblüte keine führende Position einnimmt.
So wie sich die EU-Staaten friedlich mit ihren Partnern, den globalen Großunternehmen und ihren privaten Schiedsgerichten, verständigen sollen, so soll sich Russland im eigenen Interesse friedlich in die neue Weltordnung einfügen. In dieser nimmt die EU eine untergeordnete, Russland gegenüber jedoch überlegene Position ein. Russland aber will sich als ehemalige Supermacht in der sich neu formierenden globalen Hierarchie offenbar noch nicht unter der EU und erst recht nicht unter Deutschland einordnen.
Der bockige Schüler
Die Sanktionen sollten Russland dazu bringen, die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine zu beenden und die Krim ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Das hat nicht funktioniert, weil die russische Regierung bockig war. Der immer wieder beschworene „Dialog“ ähnelt dem zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, der sich entschuldigen und in die Hand versprechen soll, dergleichen nie wieder zu tun.
Aus polnischer und baltischer Sicht und aus Sicht der ukrainischen Regierung lässt sich die Szene auch anders bewerten. Russland hat das Völkerrecht gebrochen und ist Aggressor. Es sollte mit allen Mitteln in die Schranken gewiesen werden, was die ukrainische Regierung – ihrer politischen Pflicht folgend – auch versucht. Sie möchte zurückholen, was ihrem Staat weggenommen wurde. Kriegsziel der russischen Regierung ist es offenbar, das Hinterland der Krim zu erobern, um die Halbinsel dauerhaft halten zu können. Vielleicht will sie sogar die südlichen Gebiete der Ukraine besetzen, um eine Landbrücke nach Transnistrien zu gewinnen. Darauf jedenfalls verweist der wiederbelebte Begriff „Neurussland“, der unter der Zarin Katharina II. die frisch annektierten osmanischen Einflussgebiete bezeichnete.
Nukleare Eskalation
Noch hat Russland seine volle militärische Macht nicht eingesetzt. Gegen sie hätte eine auf sich gestellte Ukraine keine Chance. Aber offenbar scheut Putin die Eroberung, um nichts Unkalkulierbares auszulösen. Eine antirussische Guerilla wäre in der südlichen Ukraine zwar nicht zu befürchten, aber ein offenes militärisches Eingreifen der USA beziehungsweise der Nato ließe sich nicht einhegen. Dann wäre ein nukleares Inferno in Europa nicht mehr zu vermeiden. Die von der Bundesregierung wiederholte Formel, der Konflikt könne nicht militärisch gelöst werden, richtet sich vor allem gegen jene Beobachter, die dennoch einen Militärschlag gegen Russland herbeisehnen und dem Westen Appeasement vorwerfen. Als Außenminister kann sich Steinmeier von den Sanktionen nicht distanzieren. Also unterstreicht er die Gefahren, die von einem Staatszerfall Russlands ausgehen. Schon Sanktionen können Folgen haben, die keiner will, und der abstürzende Ölpreis schadet Russland ohnehin weit mehr. Er stärkt die westliche Position und erhöht zugleich die Risiken.
Steinmeiers Hinweis, es gehe nicht darum, Russland ökonomisch zu besiegen, ist allerdings nicht ganz ehrlich, denn Wirtschaftssanktionen setzt man in Gang, um einen Gegner zur Vernunft zu zwingen. Russland kann dieses Vorgehen kaum verurteilen; es selbst hat ja immer wieder Sanktionen gegen unbotmäßige ehemalige Sowjetrepubliken eingesetzt, etwa mit Importverboten gegen Moldau und Georgien, Länder, die auf den russischen Markt angewiesen waren.
Ist Putin das kleinere Übel?
Putin sitzt in Russland zwar scheinbar fest im Sattel. Die Sanktionen und der sinkende Ölpreis können aber mürrische Stimmungen wie in der dahinsiechenden Sowjetunion beziehungsweise wie in der Epoche Jelzins verbreiten. Sie würden sich gegen Putin und seine Herrschaftsgruppe richten. Es wäre naiv, davon auszugehen, dass Russland dann zu einem demokratischen Rechtsstaat werden könnte. Man mag in Putin einen skrupellosen Verbrecher sehen, aber nichts spricht dafür, ihn für naiv oder fanatisch zu halten. Was nach ihm kommt, könnte ebenso brutal, aber weitaus unbedachter und irrationaler sein. In Putins bisheriger Regierungszeit wurden zwar weder Demokratie noch Rechtsstaat gestärkt, aber das war auch in den wilden zehn Jahren unter Jelzin nicht der Fall. Die Ukraine war nicht besser.
Die demokratische und menschenrechtlich orientierte Opposition in Russland hat es in den neunziger Jahren nicht geschafft, die Führung des Landes zu erringen, und heute ist sie viel schwächer. Es gehört zu den bisherigen Grunderfahrungen des 21. Jahrhunderts, dass man mit Demonstrationen zwar Diktaturen stürzen, aber keinen gesellschaftlichen Neuaufbau zustande bringen kann. Der Maidan hat damit geendet, dass die ukrainischen Oligarchen wieder an die Macht gewählt wurden und nun die demokratischen Ideale verkörpern. In Russland sind die Oligarchen wirtschaftlich aktiv und politisch entmachtet. Hier wird die Herrschaft nicht zu den skrupellosen, aber rationalen Oligarchen zurückkehren.
Einen Staatszerfall, wie ihn Steinmeier offenbar befürchtet, würde die Welt auf jeden Fall noch aufregender machen. Putin ist sicherlich nicht das geringste Übel, aber es kann zu weitaus schlimmeren Konstellationen kommen. Vielleicht ist der deutsche Außenminister ja ein Feigling. Aber wer sagt, dass das falsch ist?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos