Debatte Polizeigewalt und „Body-Cams“: Kameras retten kein Leben
Angesichts der Polizeigewalt in den USA wird über Schulterkameras diskutiert. Doch die Überwachung ist teuer. Und hilft nur wenig.
E ine „Dashboard Cam“ habe ich das erste Mal im vergangenen Jahr bei einem Besuch in Russland gesehen – und zwar in so gut wie jedem Auto, in dem ich mitgefahren bin. Die kleinen Digitalkameras, die am Rückspiegel oder auf dem Armaturenbrett montiert sind, nehmen automatisch die ganze Fahrt frontal durch die Windschutzscheibe auf.
Auf die Frage, warum man diese Dokumentation des Fahrverhaltens Anderer bräuchte, bekam ich wüste Geschichten von ungebremsten road rage zu hören: von Betrunkenen, die auf der Autobahn Zickzack fahren, von Fahrern, die andere Autos abdrängen oder diese zum Anhalten zwingen, um deren Lenker zu verprügeln. Auf den russischen Straßen scheint das Faustrecht zu herrschen. Davor sollen die Kameras schützen, fast wie ein orthodoxes Heiligenbild am Rückspiegel.
Wenn man alles ununterbrochen aufzeichnen muss, um die Mitmenschen von Gewalttaten und Verbrechen abzuhalten, ist man in einer Gesellschaftsordnung angekommen, in der das Recht der Stärksten und Skrupellosesten gilt.
In so einer Welt ist der Contrat social, der das Allgemeinwohl und ein friedliches Zusammenleben sichern soll, zusammengebrochen und durch einen gewalttätigen Urzustand ersetzt worden, in dem jeder sich selbst der Nächste ist – solange er nicht dabei gefilmt wird. Weil die normalen Regeln des Miteinanders nicht mehr funktionieren, wird der Technik die Aufgabe übertragen, für ein geordnetes Zusammenleben zu sorgen.
Wen sollen die Kameras schützen?
Daran sollte man sich erinnern, wenn nun – nach mehreren zufällig mit Handykameras dokumentierten Todesschüssen von Cops auf schwarze Bürger in den USA – darüber diskutiert wird, ob man Polizisten mit Schulterkameras ausstatten soll, die sie bei Einsätzen filmen. In den USA ist diese Idee von Bürgerrechtlern als Reaktion auf die zahlreichen Fälle von auf Video dokumentierter Polizeigewalt der letzten Monate ins Spiel gebracht worden.
In Deutschland, wo dieses Konzept besonders von der Polizeigewerkschaft propagiert wird, gibt es bereits eine Reihe von Modellversuchen. Doch bei all diesen Initiativen geht es um Kameras, die von den Polizisten kontrolliert werden. Das Ziel ist, die Polizei vor Angriffen durch Bürger zu schützen, nicht die Bürger vor Übergriffen der Polizei. Die Streifenpolizisten schalten ihre Kameras in problematischen Situationen nach Ankündigung ein („Das nehmen wir jetzt mal lieber auf.“), und filmen aus ihrer Perspektive – wenn auch aus Datenschutzgründen ohne Ton.
In Hessen filmen Streifenpolizisten in Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden Einsätze in Problemvierteln. Das Experiment ist aus Sicht der Polizei so erfolgreich, dass nun Schulterkameras für das ganze Bundesland erwogen werden. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung will die hessische Polizei allerdings nicht mit der Öffentlichkeit teilen oder wissenschaftlich evaluieren lassen.
In Baden-Württemberg gibt es erste Versuche mit „Body-Cams“ in Freiburg und Mannheim. Auch in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen wird über derartige Maßnahmen nachgedacht; in Berlin zeigt sich der Möchtegern-Law-and-Order-Innensenator Henkel „sehr aufgeschlossen“.
Eine Kamera rettet kein Leben
Die Überwachungskameras, die seit den 80er Jahren mit ähnlichen Argumenten eingeführt wurden wie jetzt die Body-Cams und inzwischen flächendeckend und weitgehend akzeptiert große Teile des öffentlichen Raums abdecken, haben allerdings keinen der U-Bahn-Schläger der letzten Jahre davon abgehalten, auszurasten. Allenfalls haben sie zur nachträglichen Identifizierung der Täter beigetragen.
Videokameras konnten auch nicht das Leben der Studentin Tugce A. retten, die vor mehreren Überwachungskameras auf dem Parkplatz eines Fastfood-Restaurants in Offenbach erschlagen wurde. Wenn die Täter aufgebracht oder betrunken genug sind, lässt die einschüchternde Wirkung von Videokameras offenbar zu wünschen übrig.
Dass Überwachungskameras Verbrechen verhindern, hat bisher noch niemand nachweisen können; nicht zuletzt, weil es inzwischen einfach zu viele von ihnen gibt, als dass ihre Aufnahmen noch irgendjemand sinnvoll auswerten könnte – schon gar nicht die wenig qualifizierten und unterbezahlten Menschen, die im McJob Wachmann arbeiten.
Könnten also am Körper getragene Videokameras Übergriffe der Polizei verhindern, wie von ihren liberalen Verteidigern erhofft? Die Body-Cam ist ein weiteres Element eines Überwachungssystem, das der britische Soziologe Zygmunt Bauman das Postpanoptikum nennt: die Ausübung von Kontrolle durch technische Beobachtung. Ohne dass er direkt Gewalt ausübt, wird der Polizist durch die Kamera in eine Machtposition versetzt.
Asymmetrie der Kräfte
Die Body-Cams schaffen ein asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen Gefilmten und Filmenden. Denn die Produktion, Kontrolle und Auswertung von beweiskräftigen Bildern liegt ganz bei der Polizei.
Das kann man auch durch Zurückfilmen – etwa mit der Handykamera – kaum ändern. Denn der Polizist kann sich in Deutschland auf sein Recht am eigenen Bild berufen, die Kamera beschlagnahmen, und hat bei Veröffentlichung seines Bildes unter Umständen sogar Anspruch auf Schadensersatz. Den Gefilmten bleibt das Recht auf die „informationelle Selbstbestimmung“ – und dass das in Deutschland nicht viel wert ist, weiß man spätestens seit dem NSA-Skandal.
Wie die Digitalkameras in Russlands Autos sollen die Body-Cams technisch ein Problem lösen, das eigentlich sozialer Natur ist. Muss man einem Polizisten wirklich à la Robocop eine Kamera anmontieren, damit er nicht acht Mal von hinten auf einen flüchtenden Unbewaffneten schießt, wie es der Polizist Michael Slager in North Charleston getan hat? Oder ist da nicht eher bei dessen Auswahl und Ausbildung etwas sehr schief gelaufen?
Wem es zu anstrengend ist, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, dem mag die Body-Cam als eine einfache – wenn auch leider kostspielige – Lösung für das in Rede stehende Problem erscheinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag