Debatte Flüchtlingspolitik: Dämonisierte Fremde

Politik gegen Flüchtlinge ist ein politischer Renner. Was aber bleibt von unserer Gesellschaft, wenn immer mehr Gruppen als fremd markiert werden?

Auf einem Schiff steht eine winkende Personengruppe

Flüchtende, wie auf dem Boot „Open Arms“, werden in Europa oft nicht mit offenen Armen empfangen Foto: dpa

Nein, die wichtigste Frage dieser Woche war nicht, ob Horst Seehofer Bundesinnenminister bleibt. Oder Vorsitzender der CSU. Es war auch nicht die wichtigste Frage, ob Angela Merkel stürzt oder ob die Kanzlerin von Europa gerettet wird. Und ob der SPD noch einfallen könnte, wann genau sie zu dem Ganzen eine Haltung bezieht, die sie mehr als 48 Stunden bewahren kann. All das sind sicher interessante Aspekte, doch sind sie kaum mehr als Polittheater – fast so spannend wie Fußball, aber letztlich kaum mehr als der übliche Gossip, der eine gut funktionierende Demokratie so unterhaltsam macht.

Es wurde auch, dummerweise ganz en passant, eine Frage verhandelt, die viel weiter reicht. So weit, dass sie die Amtszeiten von Merkel und Seehofer nicht nur überschatten, sondern überdauern wird: Kann auch in Deutschland wieder eine Politik Erfolg haben, wie sie bereits in vielen Nachbarstaaten reüssiert? Die nur mit einem Argument operiert: der Angst vor dem Fremden?

Angesichts der Faktenlage ist dies eine völlig irrationale Angst. Und es spielt auch keine Rolle, ob sie überhaupt in irgendeiner Weise begründet ist. Zurzeit zählt nur, wer lauter schreit, wer am aufsehenerregendsten wie Rumpelstilzchen durch die Gegend springt. Mit anderen Worten: Es ging in dieser Woche vor allem um die Frage, ob die AfD mit dem einzigen Trumpf, den sie hat, eine gesellschaftliche Veränderung durchsetzen kann. Und die Antwort lautet: Ja, kann sie. Sie muss dafür nicht mal in einer Regierung sitzen.

Jahrelang haben die Rechtspopulisten immer extremer herumkrakeelt. Einen Teil der Gesellschaft haben sie damit auf ihre Seite ziehen können, aber er ist immer noch klein. Doch der Rest ist mittlerweile so genervt, dass er sich in seiner Ruhe gestört fühlt. Die einen gehen deshalb ­gegen die AfD auf die Straße, um ihr etwas entgegenzusetzen. Die anderen machen sich Sorgen um die gewohnte Kuscheligkeit der Bundesrepublik – und gehen auf die AfD zu, um den Laden wieder unter Kontrolle zu kriegen.

Restliberalität steht auf dem Spiel

Da ist zum Beispiel Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur des Wochenblattes Zeit, das man eigentlich immer noch gern als liberales Flaggschiff bezeichnen würde. Di Lorenzo befürchtete kürzlich in einem Kommentar, dass die aktuelle Auseinandersetzung um die Flüchtlingspolitik nicht nur die Kanzlerin demontieren könne, sondern dass am Ende eine andere Republik stehe. Er forderte daher eine Politik, die die Gesellschaft befriede. Damit Deutschland als zivilisierter Staat erhalten bleibe, so sein Argument, sei es vernünftig, die Zuwanderung schnell zu begrenzen.

Ja, das klingt verlockend. So verlockend, dass keineswegs nur die CSU, sondern auch Teile aller anderen Parteien im Bundestag mehr oder weniger offen mit dem Gedanken spielen, die Sorgen der berühmten besorgten Bürger ernst zu nehmen. Abschottung vor den dämonisierten Fremden als Tranquilizer für die Aufgeregten. Immer mit dem Ziel: Ruhe im Karton.

Die Zahl der Flüchtlinge wird dadurch zwar nicht sinken. Aber sie bleiben – im Wortsinne – auf der Strecke. Wenn es „gut“ läuft für die ruhebedürftige Bundesrepublik, versanden sie irgendwo weit weg in der Sahara. Und wenn es schlecht läuft? Dann ertrinken sie wieder zu Tausenden im Mittelmeer. Oder ersticken in einem luftdichten Lkw auf der Autobahn. Genau solche Bilder führten 2015 zu einer radikal humanen Flüchtlingspolitik.

Es mag sein, dass die vor dem TV hockende Gesellschaft solche Bilder diesmal ertragen mag – aus Angst vor den Rechtspopulisten. Aber sie wird noch viel mehr aushalten müssen. Denn es ist ein fataler Irrglaube, dass mit einer harten Linie gegen Flüchtlinge die Restliberalität der Republik gerettet werden kann. Genau das Gegenteil ist der Fall: Sie steht nun komplett auf dem Spiel.

Rechtsnationale Front

Die letzten drei Jahre haben gezeigt, dass selbst ein immenser Rückgang der Flüchtlingszahlen keinerlei Beruhigung an der rechts­natio­nalen Front zur Folge hatte. Wieso also sollten diese Leute gerade jetzt von ihrem xenophoben Wahn abrücken, wenn sie von höchster Stelle die Bestätigung bekommen haben, dass Flüchtlinge ein zu bekämpfendes Phänomen sind? Und warum sollten sie von ihrem Trumpf lassen, der soeben als politikfähig zertifiziert wurde: der Angst vor dem Fremden? Wehe dem, der irgendwie unter dieses Label gerät.

Schon jetzt werden nicht mehr nur Flüchtlinge dämonisiert, sondern viele, die keine durch und durch deutschen Urgroßeltern haben. Das ist „nur“ Rassismus. Bald werden vielleicht auch die Homosexuellen als „fremd“ abgestempelt. Die Regenbogenfamilien. Die Andersdenkenden. Die Journalisten. Die Linksgrünversifften. Die Europafreunde. Die Klimaschützer. Und noch viele weitere Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die, um ihre Liberalität zu retten, ihre Seele an die Rechtspopulisten verkauft hat.

Wie viel Inhumanität nimmt die Gesellschaft in Kauf, um Humanität zu retten? Bis nichts mehr da ist

Bei jedem neuen Gezeter wird diese Gesellschaft wieder vor der Frage stehen: Wie viel Inhumanität nimmt sie in Kauf, um Humanität zu retten? Bis nichts mehr da ist.

Klingt das alarmistisch? Mag sein. Tatsächlich stehen wir weder vor der unmittelbaren Rückkehr des Nationalsozialismus, noch wird Europa gleich morgen in seine Nationalstaaten zerbrechen und auf einen Zustand wie anno 1930 zurückfallen. Oder 1910. Aber wer bis dahin warten will, um Alarm zu schlagen, sollte sich im Klaren sein, dass es dann zu spät ist.

Zudem sind alle sich bereits abzeichnenden Zwischenschritte Grund genug, das Fürchten zu lernen. Und anders als die Angst vor dem Fremden ist diese Angst sehr begründet. In Italien ist bereits ein Rechtsradikaler Innenminister, den einige nicht ohne Grund Faschist nennen. In Ungarn steht Pressefreiheit nur noch auf dem Papier. In Österreich sind die Attacken auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk Alltag. In Polen wird die Unabhängigkeit der Justiz ausgehöhlt. In den USA regiert Donald Trump.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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