Daniel Cohn-Bendit: „Konsequenzen radikaler benennen“

Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit über das nahende Ende seiner politischen Karriere, Rock-'n'-Roller, Fantasie und die Fußball-WM in Brasilien 2014.

„Das Hauptproblem ist, dass die Menschen nicht sehen, was die wirkliche Funktion Europas ist.“ – Daniel Cohn-Bendit. Bild: dpa

sonntaz: Herr Cohn-Bendit, würden Sie heute noch den Grünen beitreten?

Daniel Cohn-Bendit: Gute Frage. Ich bin Mitglied der deutschen und der französischen Grünen. Bei den deutschen will ich bleiben, die französischen bin ich gerade dabei zu verlassen. Ich bin von Parteipolitik nicht begeistert, werde aber weiterhin als Grünen-Mitglied versuchen, in der Diskussion einige Punkte durchzusetzen.

Das klingt ja reichlich desillusioniert?

Das liegt an meinem Anspruch. Schließlich hatte ich mal eine Idee …

Ende der 1970er Jahre – welche Idee, welches Versprechen verbanden Sie denn damals mit der Gründung der Grünen?

Dass man Politik auch anders machen kann. Dass Politik nicht nur instrumentell dem Machterwerb dient. Dass sie offen für Einflüsse aus der Gesellschaft ist, nicht so selbstbezogen sein müsste und, und, und. Diese Hoffnung hat sich aber eher selten realisiert.

Sie kamen aus der außerparlamentarischen Linken. 1978 kandidierten Sie für die frisch gegründete hessische Grünen- Landesliste. Wie kam es dazu?

Ich wollte hessischer Innenminister werden. Das wäre 1978 ungefähr so das Absurdeste gewesen: Dany Cohn-Bendit als Innenminister! Die außerparlamentarischen Bewegungen schienen uns wie Ebbe und Flut: Mal kommt das Wasser, und dann ist es wieder weg. Wir waren von der Entwicklung der Bewegung desillusioniert. Wir glaubten, wer wirklich etwas bewegen will, muss die Machtverhältnisse in den politischen Institutionen verändern. Der Schritt in Richtung Parlamente hieß für uns auch konsequenterweise, sich auf Realpolitik einzulassen, um so Veränderungen herbeizuführen. Vieles ist auch gelungen. Nur ist dabei öfters die gesellschaftliche Bodenhaftung verloren gegangen.

geboren 1945 in Frankreich. ‘58 Umzug in die BRD. Rückkehr nach Frankreich, Anführer im Pariser Mai, ‘68 ausgewiesen. Sponti in Frankfurt/Main, ‘89 Multikulti-Dezernent. Seit ‘94 Grünen-Europaparlamentarier.

Nun waren die Grünen zuletzt in Baden-Württemberg sehr erfolgreich. Wie passt dies mit Ihrer Kritik zusammen?

Kretschmann ist sicherlich ein sehr guter Ministerpräsident und hat persönlich einen großen Einfluss auf die Gesellschaft. Aber er sprudelt nicht gerade vor Fantasie. Man kann nicht sagen, dass mit ihm die Fantasie an der Macht sei. Vielleicht ist es auch unmöglich. Doch wie sieht es sonst aus? Gut, wir haben die ökologische Wende durchgesetzt. Aber es gibt ja noch anderes wie Schule, Migration, Islam. Und da finden die Sarrazins und Buschkowskys einen ganz anderen Zuspruch als wir.

Den Grünen fehlt die Emphase, die Deutungshoheit für eine eigene solidarische Erzählung von Gesellschaft?

Die Leidenschaft, aber auch die Fähigkeit, da, wo die Gesellschaft beunruhigt ist, Entwicklungen nicht begreift, wie bei der Europa-Debatte, mit neuen Diskursformen präsent zu sein.

Parlamentarische Arbeit macht vielleicht automatisch ein bisschen technokratisch und kühl?

Ja, aber eine Partei sollte nicht nur durch parlamentarische Repräsentation bestimmt sein.

Aus Brüssel kommentiert es sich aber auch leichter, als wenn man in Stuttgart ganz realpolitisch regieren muss.

Na ja, aus Brüsseler Perspektive ist es sicherlich auch schwierig, in Nürtingen oder Schwäbisch-Gmünd das Europa-Projekt zu verteidigen.

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Sie haben Ihre Mitgliedschaft bei den französischen Grünen ausgesetzt. Worin unterscheidet sich Politik in Frankreich von der in Deutschland, mit Blick auf Grüne und Linke?

Die französischen Grünen haben ein Riesenpotenzial, was die 16 Prozent bei der letzten Europa-Wahl zeigte. Ökologische Transformation, neue Demokratie, Parteien öffnen, das ist die Zukunft. Doch bei den Präsidentschaftswahlen haben es die französischen Grünen geschafft, wieder auf knapp 2 Prozent zu schrumpfen.

Woran liegt das?

Am internen Funktionieren. Das ist ein geschlossener Verein. Uns ist es nicht gelungen, das aufzubrechen. Die Funktionäre wollen ohne Basis auskommen und gleichzeitig Opposition und Regierung sein. Als europäische Bewegung müssen wir uns die Frage stellen, warum die Grünen eine mitteleuropäische Kraft geblieben sind. Ökologische Transformation bedeutet Modernisierung der Gesellschaft. Gerade in der Krise müssten wir bestimmte Konsequenzen radikaler benennen, vor denen sich manche aus Sorge um ihren Wohlstand fürchten. Oder kurz gesagt: Der Ausstieg aus der Atomenergie, die Energietransformation in Deutschland ist doch der Beweis, dass grüne Politik auch einer modernen Ökonomie nicht schadet, sie im Gegenteil kräftigt.

Als früherer „Sponti“ waren Sie in Frankfurt am Main Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten. Was waren Ihrer Meinung nach die größten Verdienste der deutschen Grünen an der Macht, in der Regierung Schröder/Fischer?

Sie haben den Atomausstieg durchdacht und möglich gemacht, eine gesellschaftliche Basis geschaffen, der auch Merkel nach Fukushima nachgeben musste. Joschka Fischer hat zudem Deutschland in der Außenpolitik wieder handlungsfähig gemacht. Innenpolitisch brachte das neue Staatsbürgerrecht, die erleichterte Einbürgerung von Migranten einen wichtigen Modernisierungsschub.

Und die Probleme?

Was scheiterte, war die Reform der Sozialversicherung mit diesem bekloppten Mittelgebirgsnamen, Hartz …

Was haben Sie daran konkret auszusetzen?

Ich bin für eine Entbürokratisierung, wir müssen in Richtung einer sozialen Grundsicherung diskutieren. Wir haben Fehler gemacht, die vor allem der anderen Seite zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes diente. Rot-Grün hat es verpasst, höhere Grundsicherung sowie Mindestlohn durchzusetzen. Das ist die Schwachstelle des ganzen Reformprojekts. Und wenn dann noch der frühere Bundeskanzler als Gazprom-Vertreter durchs Land zieht und meint, Frankreichs Sozialisten belehren zu müssen, was soll man dazu noch sagen? Unter seiner Regierung stieg trotz Hartz IV das Haushaltsdefizit!

Ohne wäre es noch viel höher gewesen.

Ja, aber er hat die europäische Schuldenbremse, die 3-Prozent-Kriterien, außer Kraft gesetzt. Heute geht es mit der Schuldenkrise genau darum, ausgeglichene Haushalte zu schaffen. Also, der soll mit Putin Wodka saufen und die Welt in Ruhe lassen.

Nach der Linkspartei tauchte mit den Piraten weitere Konkurrenz auf. Wie sollen die Grünen mit den enormen Schwankungen der Wähler künftig umgehen?

Jede Zeit produziert ihre eigenen Sehnsüchte nach neuen Ausdrucksformen. Man kann über die Piraten sagen, was man will. Aber, sie haben eine Idee von einem erweiterten Freiheitsbegriff des Individuums, das sich kollektiv durch das Internet anders einbringen kann. Und das ist etwas Wichtiges. Dem müssen sich jetzt alle stellen. Genauso wie der Linkspartei und der sozialen Frage: mit Grundsicherung, Mindestlohn, aber auch Anreizen zu Arbeit und Selbsttätigkeit. Aber auch wenn wir eine Bildungsoffensive wollen, sollte man nicht so tun, als könnte man alles über Umverteilen und Reichensteuer bezahlen. Es träfe immer auch die Mittelschicht, nicht nur Millionäre.

Sie sind seit 1994 abwechselnd für die französischen und deutschen Grünen im Europäischen Parlament. Die Nationalstaaten haben die Schuldenkrise produziert, dennoch ist die Europa-Skepsis groß. Wie lassen sich Regionalismen und Kleinstaaterei überwinden?

Ich glaube, das Hauptproblem ist, dass die Menschen nicht sehen, was die wirkliche Funktion Europas und damit des Europa-Parlaments ist, wie es wirklich europäische Entscheidungen kontrollieren könnte und müsste. So trifft der Rat eine Entscheidung zu Griechenland, doch dann wird das nur im Deutschen Bundestag diskutiert. Das Europa-Parlament bräuchte mehr Befugnisse, um Haushalts- und Finanzkrisen zu überwinden. Die Einstimmigkeitsklausel und damit das Vetorecht jedes einzelnen Mitgliedstaat gehören abgeschafft. Oder: Wir könnten enorme Mittel einsparen, wenn nicht alle 27 Mitgliedstaaten ihre eigene Armee unterhielten, eine einzige europäische täte es auch.

Herr Cohn-Bendit, Sie sind jetzt 67, Konflikten sind Sie selten aus dem Weg gegangen. Was ist Ihr nächstes Projekt, werden Sie noch mal kandidieren?

Nein, ich kandidiere nicht mehr. In Griechenland hätte es mich gereizt, und – ohne griechisch zu sprechen – 20 Prozent zu holen. Über Internet und TV sind meine Brüsseler Reden dort sehr bekannt. Aber ich will nicht mehr. Ich werde stattdessen 2014 zur Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien einen Film drehen. Einen Dokumentarfilm über all die brasilianischen Fußballer, die der Demokratieprozess in den 1980er Jahren hervorbrachte. Es gab ja nicht nur Sokrates, den Kapitän der brasilianischen Nationalmannschaft, der in der Endphase der Diktatur 1983/84 mit Spruchbändern in den Stadien agitierte und soziale Projekte für Kinder und Lehrlinge initiierte. Sich zu engagieren ist eine Tradition, die es bis heute bei bekannten Fußballern in Brasilien gibt.

Was wird aus den Grünen, wenn all die von der Neuen Linken geprägten Vordenker wie Sie oder Joschka Fischer in Rente gehen? Werden die dann zu den Biospießern, den Karikaturen, vor denen Arbeiterklasse-Linke wie Lafontaine oder Wagenknecht immer gewarnt haben?

Joschka meinte ja, wenn mit uns die letzten Rock-’n’-Roller von der Bühne gehen, dann rocken die Grünen nicht mehr. Das war überheblich. Egal wie die Wahlen nächstes Jahr ausgehen, hinter Jürgen Trittin wartet bereits die nächste Generation. Die Katrin Göring-Eckardts, Cem Özdemirs oder Tarek Al-Wazirs werden dann übernehmen.

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