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Kriminologe über Polizeigewalt„Graubereich Verhältnismäßigkeit“

Die meisten Ermittlungen gegen Polizeigewalt werden eingestellt, sagt der Kriminologe Tobias Singelnstein. Er will das Feld systematisch untersuchen.

Schlagstockeinsatz gegen einen Anti-G20-Demonstranten in Hamburg Foto: dpa
Katharina Schipkowski
Interview von Katharina Schipkowski

taz: Herr Singelnstein, von den Ermittlungen gegen Polizisten wegen Polizeigewalt beim G20-Gipfel wurde bereits über die Hälfte eingestellt. Was erwarten Sie von den noch laufenden Verfahren?

Tobias Singelnstein: Nach den Erfahrungen in anderen Verfahren wegen Körperverletzung im Amt muss man davon ausgehen, dass die meisten Ermittlungen eingestellt werden.

Woran liegt das?

Zum einen wird es Fälle geben, in denen die Betroffenen falsch einschätzen, wie weit die Befugnisse der Polizei gehen. Sehr viel entscheidender sind meines Erachtens aber die strukturellen Besonderheiten dieser Verfahren.

Im Interview: Tobias Singelnstein

41, ist Professor für Kriminologie an der Ruhr Universität Bochum. Er leitet das Projekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“.

Worin bestehen die?

Zum einen ermitteln da Kollegen gegen Kollegen – es ist nachvollziehbar, dass man da einen anderen Blick hat. In der Regel ist die Beweissituation schwierig, weil die Aussage eines mutmaßlichen Opfers der Aussage mehrerer Polizisten gegenübersteht, mehr Beweise gibt es oft nicht.

Gerichte glauben meist den Polizisten. Warum?

Polizeibeamte sind in Strafverfahren alltäglich präsent, es gibt kaum Strafverfahren, wo sie nicht als Zeugen auftreten. Aus Sicht der Justiz sind sie besonders glaubwürdige Zeugen. Dabei zeigt die empirische Forschung keineswegs, dass sie besser beobachten und erinnern. Aber die Gerichte sind daran gewöhnt, ihnen zu glauben. In Verfahren wegen Körperverletzung im Amt wird dann oft nicht gesehen, dass die Polizisten selbst Beteiligte sind, unter Umständen eine sehr subjektive Sicht haben und Eigeninteressen verfolgen.

Finden die Taten häufig im Grenzbereich des Erlaubten statt?

Es gibt Graubereiche, zum Beispiel beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Staatliches Handeln muss ja immer erforderlich und angemessen sein. Da sind die Grenzen mitunter fließend.

Welche Rolle spielen Gegenanzeigen?

Es kommt in der Praxis häufig vor, dass einer Anzeige wegen Körperverletzung im Amt eine Anzeige wegen Widerstands oder versuchter Körperverletzung gegenübersteht. Die Ermittlungen gegen die Polizisten werden zumeist eingestellt, während die gegen die Bürger nach meinem Eindruck häufig zu Verurteilungen führen.

Was wollen Sie mit Ihrer Forschung herausfinden?

Das Feld ist bislang nicht systematisch untersucht. Wir wissen zwar aus der Statistik, dass jährlich etwa 90 Prozent der Verfahren gegen Polizisten wegen Gewaltausübung eingestellt werden. Die Anklagequote in diesem Bereich liegt bei nur zwei bis drei Prozent. Dies sind aber nur die Fälle, die zur Anzeige gebracht worden sind. Über das sogenannte Dunkelfeld ist kaum etwas bekannt. Da wollen wir Licht reinbringen. Wir wollen auch herausfinden, aus welchen Gründen sich Betroffene für oder gegen eine Anzeige entscheiden.

Wie gehen Sie vor?

Aktuell führen wir eine anonyme Onlinebefragung durch, an der Betroffene von rechtswidriger Polizeigewalt teilnehmen können. Im zweiten Teil des Projekts vertiefen wir die Ergebnisse durch Interviews mit Experten und Betroffenen.

Woran liegt es, dass das Feld so schlecht erforscht ist?

Bis vor ein, zwei Jahrzehnten hat in Politik, Polizei und Gesellschaft das Bild vorgeherrscht, dass das Problem gar nicht existiert oder nur das Problem einzelner schwarzer Schafe sei. In den letzten zehn Jahren hat sich die Debatte geöffnet.

Woran machen Sie das fest?

Vorwürfen gegen Polizisten wird häufig immer noch mit Misstrauen begegnet. Aber das Thema Körperverletzung im Amt spielt eine Rolle in der öffentlichen Debatte, es gibt ein Problembewusstsein. Die Kennzeichnungspflicht für Polizisten oder die Beschwerdestellen in einigen Bundesländern sind Zeichen dafür. Auch wenn man im Einzelnen schauen muss, wie viel diese Dinge in der Sache ändern, haben diese Entwicklungen doch einen erheblichen symbolischen Wert und zeigen, dass der Gesetzgeber Handlungsbedarf sieht.

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11 Kommentare

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  • Ich möchte niemandem sein Feindbild nehmen. Polizei und Soldaten sind ja schon seit der Zeit der "68er" die Vertreter des "bösen" Staates und müssen stellvertretend für diesen mit Gewalt bekämpft werden. Ich habe das damals auf den Straßen Frankfurts erlebt. Das hat sich ja dann sehr extrem bis zu Bader-Meinhof und ihre späteren RAF-Komplizen entwickelt. Das Problem ist, dass heute Gegner des freiheitlichen-demokratischen Rechtstaats, ob Antifas oder Reichsbürger, glauben, dass sie mit ihrer Einstellung automatisch auch ein Gewaltmonopol gegen die Polizei haben.

    • @Klardenker:

      Es geht in dem Artikel aber nicht um Gewalt gegen Polizisten, sondern um Gewalt von Polizisten. Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Polizisten reagieren so, weil sie zu oft angegangen werden. Aber selbst dann müssen sie verhältnismäßig reagieren. Wenn z. B. eine Person Steine auf die Beamten wirft und einen trifft, dannfefasst wird, ist das Thema eigentlich erledigt. Das dann z. B. die Kollegen die dem vermeintlichen (muss das Gericht klären ob schuldig oder nicht) Täter nochmal extra einen "mitgeben" ist nicht gerechtfertigt und gehört eigentlich sofort durch andere Beamte (falls die dabei sind und das sehen) unterbunden. Wird aus Korpsgeist nicht gemacht. Oder wenn keine da sind, vor Gericht geklärt, ohne Vertrauensbonus für die Beamten. Das war jetzt nur ein Beispiel von vielen, wo Polizisten zu weit gegen, sei es aus Emotionen oder auch Hass auf Linksdenkende z. B., der auch weit verbreitet ist, obwohl Polizisten im Dienst neutral sein müssen. Wer das nicht kann, ist fehbesetzt in dem Beruf.

  • Auch Polizisten sind keine Heiligen, sondern Menschen wie ich und du. Dass ein Polizist in Stresssituationen härter reagiert als erforderlich, kann natürlich vorkommen. Mit Strafverfahren und disziplinarischer Ahndung werden solche Übergriffe auf einem minimalen Level gehalten. Tatsache ist jedoch, dass die Gewalt gegen Polizisten enorm zugenommen hat, nicht nur bei linksextremistischen Gewaltorgien wie in Hamburg. Auch rechtsextreme Gewalttäter und der aggressive und teils mit Alkohol und Drogen zugedröhnte "Normalbürger" schreckt zunehmend nicht mehr vor Gewalt gegen Polizisten zurück. Ein Beispiel sind auch Notfalleinsätze, wo die Polizei, Rettungskräfte und die Feuerwehr Ziel rücksichtsloser Gewalt sind. Der Einsatz von Bodycams kann hoffentlich helfen, die Täter zu identifizieren und vor Gericht zu bringen. Angesichts der allgemeinen Verrohung helfen wohl auch nur noch deutliche Strafen. Vielleicht sollte die rechte und linke Extremszene auch verbal abrüsten. Parolen wie "Hate cops" und "Tötet die Bullen" offenbaren nicht nur einen armseligen Stil der Meinungsäußerung, sondern auch eine verrohte und gewaltbereite Geisteshaltung.

    • @Klardenker:

      Polizist*inen sind - wie Soldaten - eben keine representative Gruppe, sondern Menschen, die hierarchie-, befehls- und gewaltaffin sind. Es gibt also eine ganz wesentliche Teilmenge von Dir und mir, die eben keine sind - und das auch nicht 'zufällig', sondern bewusst!



      Die sicherlich zunehmende Respektlosigkeit gegenüber Polizist*innen hängt freilich mit der primär verbalen Verrohung im gesellschaftlichen und medialen Diskurs und schlicht mehr Anlässen durch mehr gegensätzlich gelagerte Demonstrationen zusammen...dennoch unterschlägt Ihre einseitig opferrollende Perspektive auf seiten der "armen" Polizist*innen das Ausrüstungs- und Gewaltmonopol dieser Exekutive und deren nicht gerade seltenen 'Überreaktionen'.



      Und Ihre Wunderhoffnung auf Bodycams ist schon deswegen realitätsfern, weil Polizist*innen vor Gericht schon längst am längeren Glaubwürdigkeitshebel sitzen, seltenst allein als Zeugen auftreten und Großlagen schon längst flächendeckend abgefilmt werden (obwohl das rechtlich nicht zulässig ist)...aber surfen Sie ruhig weiter auf der opportunen Law-and-Order-Welle, die Polizist*innen noch mehr Privilegien zugestehen, statt Fehlerkultur abverlngen will - das erhöht den Opferstatus ganz bestimmt!

  • "[...] sollte über seine Mittel nachdenken."



    Welche Mittel hat man als friedlicher Mensch denn, wenn der Beamte auf "Radau" aus ist?



    Bei Demonstrationen werden immer wieder "Beamten in Zivil" (aka. Provokateure) von ihren Kollegen ins Krankenhaus geprügelt.



    Denkt wirklich irgend jemand ein "Kollege in Zivil" würde sich nicht Korrekt gegenüber seinen "Kollegen in Uniform" verhalten?

  • Wer einen Polizisten anzeigt, wird sofort von der Polizei zurück angezeigt und das wird die Platte die Polizei die Polizei hat immer Recht aufgelegt.

    Der Punkt ist doch, dass Polizisten fast nie alleine arbeiten, oft mit Partnern, die sie gut kennen und dann schützt man sich, sagt füreinander aus. Ob dabei Grenzen überschritten werden? Sch......al

    P.S. Um die Polizei und Polizisten sollte man einen Bogen machen.

    • @Andreas_2020:

      Bodycams?



      ...und falls das Video "verloren" geht: im Zweifel für das Opfer.



      Es ist die verdammte Aufgabe der Polizei Beweise zu sichern, einfach zu behaupten man habe sie "verloren" ist inakzeptabel.

  • 9G
    91381 (Profil gelöscht)

    Vielleicht noch ein Nachtrag…

    Diese Gewaltspirale aus Angriffen gegen die Polizei und deren Reaktion erzeugt irgendwann amerikanische Verhältnisse. Dort geht die Polizei fast grundsätzlich (leider) davon aus, dass sie angegriffen werden kann. Daher wird ein Auto von zwei Kollegen gestoppt. Einer geht mit Sicherheitsabstand an den Wagen und einer sichert mit gezogener Waffe.

    Wer diese Verhältnisse (auch als Demonstrant) nicht will, sollte über seine Mittel nachdenken.

    Hinweise zum Kontakt mit der US-Polizei – man könnte auch einfach sagen: Bitte nicht die gute Kinderstube vergessen.



    Aber wer die nicht hatte - Remember:



    Think carefully about your words, movement, body language, and emotions.



    Do not get into an argument with the police.



    Keep your hands where the police can see them.



    Do not run. Do not touch any police officer.



    Do not resist even if you believe you are innocent.



    Do not complain on the scene or tell the police they are wrong or that you are going to file a complaint.

    • @91381 (Profil gelöscht):

      Sie gehen also davon aus, das Polizisten nur Gewalt anwenden, wenn diese angegangen würden und dann auch nur Verhältnismäßig? Selten so gelacht. Mehr Ste in meiner Antwort zu Klardenker's Post vom 16. 11.

  • Zitat: „Wir wollen auch herausfinden, aus welchen Gründen sich Betroffene für oder gegen eine Anzeige entscheiden.“

    Oh! Echt jetzt? Man muss Wissenschaftler sein und Steuermittel verbraten um herauszufinden, wieso Opfer von Polizeigewalt keine Anzeige erstatten, wenn „jährlich etwa 90 Prozent der Verfahren gegen Polizisten wegen Gewaltausübung eingestellt werden“ und die „Anklagequote in diesem Bereich […] bei nur zwei bis drei Prozent [liegt]“? Weil Polizeibeamte, die den Gerichten oft seit Jahren persönlich bekannt sind, als „besonders glaubwürdige Zeugen“ eingestuft werden, auch weil sie als Teil der Staatsmacht quasi Kollegen der Richter sind? Und weil zudem Bürger – anders als Polizisten – im Falle von Gegenanzeigen häufig verurteilt werden?

    Das überrascht mich jetzt! Ich meine: Offenbar können sich ja Nicht-Wissenschaftler ihre Erfolgsquote im Streitfall auch ohne langfristige Untersuchungen ausrechnen. Wieso können Wissenschaftler das nicht auch? Ganz klar: Weil Wissenschaft ist, wenn man beweisen kann, was man behauptet. Und immerhin gibt es ja noch die sogenannte Unschuldsvermutung. Die gilt halt bloß nicht für alle gleichermaßen.

    Fakt ist: So lange nichts beweisen ist, können die „schwarzen Schafe“ ungestraft behaupten, es sei gar nichts passiert. Die blauen Flecke und das zugeschwollene Auge kann ja der Kläger sonst wo aufgelesen haben. Wo niemand verurteilt wurde, ist jedenfalls auch nichts passiert. Zumindest nicht offiziell. Wo kämen wir denn sonst auch hin? Wir kämen da hin, wo die „Grauzone“ das wäre, was der Name sagt: Eine Zone, in der nicht klar geurteilt werden kann. Und was würde dann aus der Legitimation unserer Staatsgewalt werden?

  • “(…) Ich empfand als Beamter der Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der Schutz- oder Kriminalpolizei wegen Vergehen im Dienst immer unangenehm und problematisch (…), so der ehemalige Frankfurter Staatsanwalt Peter Köhler (Frankfurter Rundschau, 13.03.17).

    Es ist ein ganz besonderes Beziehungsgeflecht, welches hierbei zum tragen kommt. Polizeibeamte sind rechtlich gesehen auch Hilfsbeamte (“Ermittlungsgehilfen“) der Staatsanwaltschaften; und wie bereits im Artikel beschrieben gehen Polizeibeamte als “Premium-Zeugen“ in Gerichtssälen ein und aus. Staatsanwaltschaften und Gerichte sind in Strafverfahren - und späteren Gerichtsprozessen – im wesentlichen von der Vorarbeit (z. B. Zeugenvernehmungen) der Polizeibehörden abhängig. Dieses enge Beziehungsgeflecht dürfte auch ein Grund für häufige strafrechtliche Verfahrenseinstellungen (z.B. Körperverletzung im Amt) gegen Polizeibeamte sein.



    “Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“, lautet ein altbekanntes Sprichwort, welches m. E. hierbei zutreffend ist.