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Foto: Westend61/getty images

Verliebtsein im AlterDie letzte große Liebe

Mary ist bald 80, das Leben geht dem Ende entgegen, so scheint es. Dann trifft sie Derek. Eine Geschichte aus einem britischen Seniorenheim.

W elches Lied war es nochmal? Mary kommt nicht darauf. Mit Sicherheit war es ein Klassiker. Eine Ballade. Vielleicht „You Are My Sunshine“? Aber eigentlich ist der Titel egal, es ging um die Stimme. Nicht die des Sängers – die kannte Mary gut genug, weil sie regelmäßig die Nachmittagsshows im Easterlea Seniorenheim besuchte. Nein, diese Stimme war neu, und sie gehörte einem Mann, der sich neben sie gesetzt und einfach mitgesungen hatte. Sie war so eingenommen davon, wie seine Stimme aus ihm herausbrach, glasklar und dem Alter trotzend, dass sie ihn einfach anstarren musste. Der Mann zwinkerte ihr zu. Frechdachs, dachte Mary.

Es ist nicht ganz klar, wie lange das her ist. Zwei, drei Jahre vielleicht? Mit dem Ablauf der Dinge, sowieso mit der Zeit an sich ist es kompliziert, manchmal verwirrend. Aber manches wissen wir mit Sicherheit. Marys voller Name ist Mary Turrell, und sie ist fast 80 Jahre alt. Sie lebte schon etwa ein, zwei Jahre im Easterlea Seniorenheim in Denmead, in der Nähe von Portsmouth im Süden Englands, als der Mann mit der Stimme auftauchte. Sein Name war Derek Brown.

Komisch, was in Erinnerung bleibt. Kristalline Momente, meist aus der Kindheit. Wie sie mit ihrem großen Bruder Ian in diesem einen Sommer ein Teleskop baute, zum Beispiel. Oder wie sie sich in einem zerbombten Krater im Wald versteckte. Der Keuchhusten und das Gefühl einer verkrusteten Wunde auf ihrer Oberlippe. Sie solle nicht daran rumpulen, sagte ihre Mutter, aber es war so verlockend.

Mary war fünf und besuchte die Grundschule in Norbury, im Süden Londons, als sie anfing, Wettrennen gegen die Jungs zu gewinnen. Als sie sieben Jahre alt war, tauchte eine Frau an der Wohnungstür auf, rief nach Marys Mutter und sagte: „Ihre Tochter ärgert andere Kinder.“ Mary hatte ihren Sohn auf den Kopf geschlagen, mit einem Ball in einer Netztasche. Einer der Knoten des Beutels muss mit einer solchen Wucht seine Stirn getroffen haben, dass ein Stück Haut herausgerissen wurde. Aber der Junge hatte Ian geärgert. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen.

Mary wollte noch schneller laufen. Ihr Vater riet ihr, einem Leichtathletikverein beizutreten, und Mary überlegte, ob sie mutig genug war, allein mit dem Bus dorthin zu fahren. Sie traute sich. Im Verein servierten sie heißen Johannisbeersaft. Es dauerte nicht lange und Mary rannte 100 Meter, 400 Meter, Hürden. Bald trat sie für die englische Schulnationalmannschaft an. Einmal gewann sie eine Medaille, ein olles Ding: dritter Platz.

Komisch, was in Erinnerung bleibt. Kristalline Momente, meist aus der Kindheit

Ihr Vater, der für die Bank of Scotland arbeitete, hatte Regeln. Mary durfte keine Hosen tragen. Sie würde auf eine öffentliche Schule gehen, nicht so eine, für die man bezahlen musste, so wie ihr Bruder. Marys Mutter durfte nicht arbeiten. Das wäre demütigend für den Vater gewesen, es hätte ausgesehen, als sei er kein guter Versorger. Er war das Familienoberhaupt, traf alle Entscheidungen. Oh, wie wunderbar es war, ein Mann zu sein! Mary war mal kurz einer, in einem Schultheaterstück. Sie musste ein Schwert ziehen. Ihr Körper fühlte sich dabei anders an, als hätte er plötzlich Auftrieb.

Anstatt arbeiten zu gehen, blieb ihre Mutter zu Hause und nähte aus alten Kleidern neue. Wenn die Kinder aus der Schule kamen, saß sie in einem makellosen Wohnzimmer mit einem frisch gebackenen Kuchen auf dem Servierwagen, dazu gab es Marmelade aus Früchten aus dem eigenen Garten: Kirsche, Birne, Pflaume. Sie machte die Betten. Sie machte Apfelkuchen. Sie machte alles schön.

Mary wusste, was sie werden wollte: Sportlehrerin. Sie bekam einen Platz am Chelsea College of Physical Education in Eastbourne, und als sie auszog, bekam sie außerdem lauter Anweisungen, die ihr Bruder sich niemals anhören musste, als er auf die Uni kam. Werd nicht schwanger. Sei vor 22 Uhr zu Hause. Arbeite nicht zu hart – das war schließlich nicht wirklich wichtig, da sie ja nur spielen würde zu arbeiten, bis sie heiratete.

So ein Müll, dachte Mary, bis es wirklich so kam. Nach der Hälfte ihrer Studienzeit traf sie Nicholas, der an einer landwirtschaftlichen Hochschule in Guildford studierte. Sie war hin- und hergerissen. Was war wichtiger? Eine Karriere im Sport zu verfolgen oder mit diesem Mann zusammen zu sein? Mary liebte Sport, aber sie hatte bis dahin noch nie etwas für jemanden empfunden, jedenfalls nicht richtig.

Sie heirateten und Mary wurde eine Bauersfrau. Nicholas war Vertragsarbeiter und schuftete auf den Höfen anderer Leute. Es gab nie viel Geld, aber ein paar Vorteile: ein kleines Cottage als Unterkunft, kostenloses Obst und Gemüse. Sehr viele Kartoffeln. Mary wusste nichts über Landwirtschaft, sie musste sich ein Lehrbuch zulegen. Mais steht gerade und Gerste beugt sich. Eine Kuh hat ein Euter.

Sie legte früh die Bedingungen ihrer Ehe fest: Wenn er arbeitete, arbeitete sie auch. Sie würde jeder Arbeit nachgehen, die sich mit der Betreuung ihrer zwei kleinen Töchter vereinbaren ließ – ein bisschen Babysitting, ein Job in einer Kindertagesstätte, die Pflege einer Frau mit Multipler Sklerose, deren Kinder nachts aus dem Fenster kletterten.

Einunddreißig Jahre waren Mary und Nicholas verheiratet. Dann sagte er eines Abends, dass er sich unwohl fühle. Mit seinem Hals stimmte etwas nicht. Er war ganz dürr geworden, wie Cliff Richard. Er ging zum Arzt, fand heraus, dass er Krebs hatte, und starb ein paar Monate später. Kurz darauf heiratete Mary seinen besten Freund Arthur und zog dessen zwei kleine Söhne groß. Dreizehn Jahre später starb Arthur und sie war wieder allein.

So viel Leben in einem Leben.

Nach dem Song und dem Zwinkern ging es schnell. Derek setzte sich jeden Tag neben sie. Sie plauderten. Eine Woche später beugte er sich zu ihr herüber und küsste sie sanft. Wenig später fragte er: Mary, willst du meine Frau sein? So formulierte er das: meine Frau.

Derek war nicht schüchtern. Er hatte sehr gute Zähne und klare Augen. Er war ein großer Mann, maskulin, aber er hatte einen weichen Kern. Er würde sein letztes Hemd für dich hergeben und es fünf Minuten später schon vergessen haben, sagte Kerry, seine Nichte. Derek war in Newcastle aufgewachsen, in einer Familie mit mehreren Kindern. Ein paar Jahre verbrachte er bei der Marine – was für Geschichten er aus dieser Zeit erzählte! Weihnachten am Strand in Australien. Wie er vom Bug des Schiffs in den Suezkanal tauchte. Wie er an Land Unmengen Zigaretten kaufte, sie in seinem Schließfach aufbewahrte und schließlich zu horrenden Preisen an seine Kameraden verkaufte, wenn sie keine mehr übrig hatten. Und Derek kannte ein paar dreckige Witze. Die kann Mary nicht wiederholen, also sagt sie nur, dass er ungezogen war. Er konnte sich einfach nicht helfen, er flirtete mit den Pflegerinnen im Heim, den Ladys, manchmal ein bisschen zu viel. Er war ein Schürzenjäger.

Derek war verheiratet, wurde geschieden, dann heiratete er wieder, aber hatte nie Kinder. Über die Jahre verlor er den Kontakt zu seiner Familie. Nachdem seine zweite Frau gestorben war, lebte er allein in Bognor Regis in West Sussex. Eine seiner Halbschwestern rief ihn ab und zu an. Als er nicht mehr ans Telefon ging, spürte sie ihn mithilfe der Polizei auf und fand heraus, dass er nach einem Sturz drei Wochen im Krankenhaus lag.

Seine Familie schaltete sich ein. Seiner Nichte Kerry fiel die Aufgabe zu, sich um ihn zu kümmern. Sie ist sehr pragmatisch. Sie nahm Derek zu sich nach Hause. Manchmal war es schön – zum Beispiel, wenn er ihren Söhnen zeigte, wie man Fisch filetiert. Aber dann stürzte Derek, mehrmals.

Wenn man jung ist, versteht man nicht, was ein Sturz bedeuten kann. Wie sehr das weh tut. Nicht nur körperlich, sondern auch im Geiste

Während seiner ersten Zeit in Easterlea rief er Kerry bis zu fünfmal täglich an, völlig verstimmt.

Stürze verändern alles. Wenn man jung ist, versteht man nicht, was ein Sturz bedeuten kann. Wie sehr das weh tut, wenn man alt ist. Nicht nur körperlich, sondern auch im Geiste. Man fängt an zu denken, dass man unfähig ist, zu nichts mehr in der Lage. Man hat Angst, sich zu bewegen.

Mary stürzte im Haus ihrer Tochter Jacquie. Sie war dort eingezogen, nachdem sie ein paar Jahre allein und dann im betreuten Wohnen gelebt hatte. Zu Hause bei Jacquie knallte Mary auf die harten Fliesen im Badezimmer. Bald schaffte sie es nicht mehr aus der Badewanne, also brachte Jacquie sie einmal die Woche zum Waschen nach Easterlea.

Der Ort gefiel Mary sofort. Die ­Pflegekräfte waren freundlich und das Heim war klein, nur 17 Be­woh­ne­r*in­nen wohnten hier in einem hübschen, zweistöckigen Haus mit roten Schieferziegeln, weißen Fensterrahmen und einem Garten mit Terrasse und hochgewachsenen Eichen, die im leichten Wind hin und her tanzten. Carol Boyce-Flowers, die Managerin, war stolz darauf, dass sich ihre Einrichtung wie ein echtes Zuhause anfühlte, im Gegensatz zu diesen neuen Heimen, die großen Ketten angehören und eher Hotels oder schicken Krankenhäusern ähneln.

Als ein Zimmer frei wurde, bot Carol es Mary an. Es ergab Sinn. Mary wollte ihrer Tochter nicht zur Last fallen, und sie hätte sich wirklich keinen schöneren Ort als Easterlea wünschen können. Es roch nicht nach Pipi oder Bleiche wie in anderen Pflegeheimen. Ihr Zimmer ging nach vorne raus und hatte große Fenster, die den Parkplatz überblickten, sodass sie alles „Kommen und Gehen aus der echten Welt“ beobachten konnte, wie sie es nannte.

Nicht, dass sich das Heim weniger echt anfühlte. Aber es war wie eine Parallelgesellschaft, wo das Leben ein wenig langsamer ablief, gutmütiger und festen Abläufen folgend. Eine Tasse Tee im Bett um sechs Uhr morgens, waschen, Frühstück, Kaffee in der Lounge um zehn, Mittagessen um zwölf, eine Tasse Tee um zwei, eine Nachmittagsaktivität, Abendessen um vier, Fernsehen, nochmal waschen, ein heißes Getränk, Schlafenszeit.

Also ja, sie hatte es sich ausgesucht hier einzuziehen, aber gleichzeitig war es anders, als Mary sich diese Phase ihres Lebens vorgestellt hatte. Sie hatte immer geglaubt, dass sie in ihrem eigenen Zuhause leben würde, mit Menschen, die zu Besuch kommen und so was sagen würden wie: „Hi Mama.“ Aber sie war froh, diese Entscheidung selbst getroffen zu haben. Die meisten Leute hier, dachte Mary, wurden einfach so abgeladen, mit dem Hinweis, dass der Aufenthalt im Heim ein Urlaub sei. Und dann mussten sie sich ständig im Stillen fragen, wann die Kinder zurückkommen und sie wieder mit nach Hause nehmen würden.

Nachdem Derek Mary traf, rief er nicht mehr so oft bei seiner Nichte an. Er und Mary hatten das Gefühl, sich für immer unterhalten zu können. Er beanspruchte den Stuhl neben ihr in der Lounge, wo alle einen festen Platz zu haben schienen. Joyce und Doreen links, die Dame mit den wunderschönen Haaren rechts. Menschen können besitzergreifend sein, wenn es um Sitzplätze geht.

Mary wollte alles über ihn wissen. Wie Newcastle war, wie sich das Leben an Bord eines Schiffs abspielte. Samstagmorgens sangen sie zusammen. Sie guckten Sport, irgendwelchen. Fußball, Männer- und Frauenspiele. Mary betonte gern, dass die Frauen mehr Pässe spielten. Meistens guckten sie Leichtathletik.

Sie eröffneten einander neue, kleine Welten. Mary brachte Derek zum Lesen, sie zeigte ihm Dan Brown, weil ihr die Verbindung so gefiel: Derek Brown liest Dan Brown. Er wiederum brachte sie zum Malen, mit Ausmalbüchern für Erwachsene, die gut fürs Gehirn sein sollen. Er liebte es zu zeichnen und zu malen. Alles, was er tat, schien er gut zu machen. Er puzzelte hingebungsvoll. Wenn ein Teil fehlte, krabbelte er auf dem Boden und zwischen den Stühlen herum, bis er es wiederfand. Er war der ordentlichste Mann, den Mary je getroffen hatte. Jedes Hemd, jeder Pullover lag gefaltet in einer Schublade. Das war der Einfluss der Marine. Und die Art, mit der er einen ansah: direkt in die Augen. Mary stellte sich vor, dass er genau so seine Kommandeure angesehen haben musste.

Es ist etwas anderes, jemanden so spät im Leben kennenzulernen. Weil man weiß, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, ist die Liebe dringlicher. Fast wie bei der ersten großen Liebe, obwohl es wahrscheinlich die letzte sein wird. Nichts von dem, was eine Beziehung in der Mitte des Lebens vernebeln kann, spielt eine Rolle: Wer macht was, wer zahlt die Rechnungen, wer kocht. Mary und Derek hatten nichts zu tun, jedenfalls nicht so was.

Vorgegebene Zeitpläne und feste Strukturen sorgen in jeder Institution für eine Form der Infantilisierung. In einem Altersheim ist das nur offensichtlicher. Die Routinen, die Aktivitäten, Bastelstunden, gemeinsames Singen, der taktvolle Umgang mit Inkontinenz und Nickerchen – das alles hat einen Hauch von Kindergarten. Da sind liebe Menschen, meistens Frauen, die Dinge für dich erledigen und manchmal mit dir sprechen, als würdest du nicht richtig verstehen. Menschen, die dich waschen und füttern, wenn du es brauchst.

Wenn es wahr ist, dass wir uns im Alter Stück für Stück zurückentwickeln, dann hatten sie vielleicht wieder ihre Jugend erreicht Foto: Joost van den Broek/HH/laif

Mary und Derek waren noch nicht so weit. Tatsächlich bestand Mary darauf, für sich selbst zu sorgen, und sie ermutigte andere, es ihr gleichzutun. Sie hatte eine kleine Regel: Sie würde jemandem nur dann helfen, das Essen kleinzuschneiden, wenn die Person es schon zweimal selbst versucht hatte.

Wenn es wahr ist, dass wir uns im Alter Stück für Stück zurückentwickeln, dann hatten Mary und Derek vielleicht wieder ihre Jugend erreicht. Das passt zu Marys Empfinden. Sie sagte oft, dass sie eine junge Frau in einem zusammengeschlagenen Körper sei. In ihrem Kopf konnte sie aufstehen und tanzen. Sie und Derek konnten spielen, wieder jung zu sein und sich den ganzen Tag gegenseitig anschmachten, weil sie keine anderen Verpflichtungen hatten. Sie konnten sich verlieben wie Sechzehnjährige. Die Liebe von Leuten ohne Verantwortung.

Die Tage nahmen neue Formen an. So früh er konnte, schlich sich Derek hinunter in Marys Zimmer. Und ja, da war Intimität zwischen ihnen. Sie schliefen nicht miteinander, aber das Verlangen war groß. Man hört nicht auf, so was zu fühlen, weil man alt ist. Derek schienen die vielen Arten, auf die ihr Körper sie betrog, nichts auszumachen. Dabei hätte Mary eine Liste erstellen können:

Deine Zähne fallen aus.

Dein Rachen zieht sich zusammen, sodass Schlucken schwerfällt.

Deine Knie bringen dich um und deine Füße schwellen an. Dein Rücken tut weh.

Du musst Einlagen benutzen, wegen der Inkontinenz. Wenn sie sich vollsaugen, können sie herumschwappen, auf dein Bein auslaufen und deine Schuhe durchnässen.

Du kannst deinen BH nicht zumachen, also musst du den Verschluss nach vorne drehen.

Dir kann schwindelig werden.

Du kannst deine eigenen Haare nicht waschen.

Du kriegst hässliche Stellen auf der Haut, wie Schuppenflechte.

Du kannst dich nicht auf deinen Körper verlassen: Ein Bein kann plötzlich nachgeben, ohne Warnung.

Das mit den Zähnen hatte sie schon gesagt, oder?

Und dann all die anderen alltäglichen Demütigungen. Gewaschen werden zum Beispiel. Nicht mit eigener Kraft aus einem Stuhl aufstehen können oder von der Toilette. Sie fühlte sich so oft reduziert. Altwerden ist ein unvermeidbarer Statusverlust. Menschen neigen dazu, nicht auf die Alten zu hören.

Mit Derek fiel das alles weg. Sie waren völlig voneinander eingenommen. Sie versuchten, respektvoll zu sein, wenigstens fand man sie niemals nackt im Flur, aber ein oder zwei Mal machten sie Geräusche. Andere Be­woh­ne­r*in­nen beschwerten sich, und die Pflegekräfte fanden es merkwürdig. Jacquie und Kerry mussten einbestellt werden, um ein paar ernste Worte zu reden: Wenn ihr so was macht, müsst ihr die Tür schließen und ein bisschen leiser dabei sein.

Aber meistens liefen Derek und Mary nur händchenhaltend durch die Gegend. Wahrscheinlich trieben sie alle anderen in den Wahnsinn, dachte Mary, zwei fast Achtzigjährige, die verrückt nacheinander sind. Und Derek war laut, er hatte diese typische Geordie-Stimme der Leute aus der Gegend um Newcastle. Nie machte er einen Punkt. Sie verbrachten die Morgenstunden mit puzzeln oder plaudern und beim Mittagessen aßen sie zu viel (sie nahmen beide zu). Dann folgte das Unterhaltungsprogramm am Nachmittag, und anschließend gingen sie zurück in Marys Zimmer, wo sie wieder plauderten oder fernsahen. Sie wollten zusammenziehen, in ein gemeinsames Zimmer. Derek begann schon nach Möbeln zu suchen, aber Carol sagte, dass es keinen Raum gab, der groß genug für zwei Personen sei. Also musste Derek nach dem Abendessen zum Schlafen in sein eigenes Zimmer gehen.

In den 35 Jahren, die sie Pflegeheimleiterin war, sagt Carol, hat es vielleicht eine Handvoll Pärchen gegeben, die dort zusammenkamen. Aber meistens hätten sie ihre Zeit damit verbracht, gemeinsam in der Lounge zu sitzen oder sich bei den Mahlzeiten Gesellschaft zu leisten. Eher wie in einer Freundschaft. Nicht wie bei Mary und Derek.

Mary hatte viele Metaphern für ihre Gefühle. Derek war ein blendender Meteorit an ihrem Himmel. Es war, als hätte jemand eine Kerze angezündet, oder die Sonne angeschaltet. Es hatte sie völlig umgehauen, sie war mit Liebe überschüttet worden.

Derek machte ihr einen Antrag. Eines Tages, in ihrem Zimmer, ganz ruhig. Ob sie heiraten wolle? Ja, bitte. Er kaufte ihr einen Verlobungsring mit einem Amethyst, weil sie sich immer einen Amethyst gewünscht hatte.

Wenn du etwas machst, mach es richtig. Mary schrieb Einladungen an Freunde und Familie. Carol und die Pflegekräfte richteten den Garten mit Pavillons und bunten Wimpeln her, Stühle und Tische hüllten sie in pinke Tischdecken. Der Tag war wunderbar, warm und sonnig. Es gab Sandwiches und zwei Torten, eine von Jacquie und eine von Kerry. Mary trug ein neues Kleid aus grauer Spitze und ein Bouquet aus pinken Rosen. Derek kaufte einen Anzug und bügelte messerscharfe Falten in die Hosenbeine. Der Pfarrer kam und spendete den Segen, eine Anerkennung dessen, was sie ineinander gefunden hatten. Sie sangen, aßen riesige Mengen Torte und saßen nebeneinander auf der Terrasse. Auf einem Foto neigen sich ihre Köpfe zueinander und sie schauen beide nach unten, als hielten sie diesen Moment fest, ganz privat, nur zu zweit.

Und dann kam ein Wintertag im Februar, es gab Fish and Chips zum Mittag, also muss es ein Freitag gewesen sein. Mary und Derek saßen wie gewöhnlich in ihren Stühlen und unterhielten sich, wahrscheinlich über das Fernsehprogramm oder über etwas, das sie in der Zeitung gelesen hatten. Derek sagte, er müsse aufs Klo, weil sie einander immer sagten, was sie taten, und dann stand er auf und sagte etwas Lustiges, weil er immer lustige Sachen sagte.

Da lag ein Ausdruck in seinem Gesicht, als hätte er Unfug im Sinn. Er flirtete ja oft mit den Pflegerinnen oder gab ihnen sogar einen Klaps auf den Hintern. Carol hatte schon mit ihm darüber gesprochen – sie wisse, dass er sich einen Spaß daraus mache, aber er müsse damit aufhören, es sei nicht richtig. An diesem Februartag jedenfalls stand er auf, lief durch den Raum und stürzte, genau vor Carols Büro. Er war da, und dann war er es nicht mehr. Er fiel zu Boden wie ein gefällter Baum.

Sie wussten, dass es schlimm war. Er konnte sich nicht bewegen. Carol rief den Rettungsdienst, die Sanitäter kamen nach einer gefühlten Ewigkeit. Mary konnte nicht anders als wütend auf sie zu sein, es gab sonst niemanden, den sie beschuldigen konnte. Sie kamen ihr so verdammt langsam vor. Aber Derek war ein großer Mann, schwer zu bewegen. Sie hievten ihn auf eine Liege und brachten ihn in die Notaufnahme. Sie könne nachkommen, sagten sie zu Mary, also rief sie Jacquie an und sie fuhren ins Krankenhaus, das Queen Alexandra in Portsmouth. Alles wird gut, dachte Mary. Sie war sicher, dass er zurückkommen würde. Sie saß neben ihm, während er immer wieder das Bewusstsein verlor. Er sagte ein paar nette Sachen. Die Stunden vergingen. Derek starb gegen acht Uhr abends.

Mary weiß, dass sie Glück hatte. Drei Männer hat es in ihrem Leben gegeben, und sie alle waren gut gewesen: 31 Jahre mit dem ersten Ehemann, 13 mit dem zweiten, weniger als ein Jahr mit dem dritten. Solches Glück. Und trotzdem – wie bescheuert war es, so oft zur Witwe geworden zu sein.

Derek hatte alles verändert, und nun änderte sich wieder alles. Ganz kurz dachte Mary nach seinem Tod darüber nach, alle ihre Tabletten aufzubewahren und dann mit Ruhm und Ehre abzutreten. Aber sie verwarf den Gedanken schnell, sie musste weitermachen. Sie musste all die Dinge weitermachen, die sie sonst gemeinsam getan hätten.

Sie setzt jetzt ein fröhliches Gesicht auf, das ist wichtig. Genau wie ihr Make-up: Grundierung, Puder, Eyeliner, Wimperntusche. Jeden Tag. Du machst dich hübsch und lächelst, denn wenn du andere überzeugen kannst, dass es dir gut geht, dann bist du nah dran, auch selbst daran zu glauben.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Da ist diese Lücke, seit er weg ist. Dieses Loch neben ihr, wo er immer gesessen hat. Sie kann fühlen, dass er bei ihr ist, so wie die Toten überall anwesend scheinen, außer körperlich. Es geschah so plötzlich. Er war hier, genau hier, und dann nicht mehr. Ohne ihn, ohne seine Gesellschaft und die Ablenkung muss sie die täglichen Wiederholungen irgendwie anders ausschmücken. Kleckern, stolpern, Gäste empfangen. Jemand kommt vorbei, um die Mutter zu besuchen. Alle machen kurz Halt an Marys Platz und reden mit ihr. Sie sehnt sich am meisten nach Austausch. Manchmal setzt das Personal jemanden in den Stuhl neben sie, weil sie wissen, dass Mary reden wird.

In dem Rechteck aus Stühlen in der Lounge sind die meisten Damen entweder still oder schlafen. Die Frau mit den wunderschönen Haaren setzt sich auf dem Platz rechts von Mary, sie platziert ihr Buch umsichtig auf dem Tisch vor ihr, dann senkt sich das Kinn auf ihre Brust und sie schließt die Augen.

Mary versucht, sich an das Schöne zu erinnern. An Eiersandwiches. An den Schweinebraten heute Mittag, mit Kartoffelbrei oder Bratkartoffeln. Sie durfte beides haben, all die Kartoffeln. Nur beim Nachtisch konnte sie den ­Pudding nicht gegen die Schokoladentarte tauschen, weil der Arzt ihr eine Diät ­verordnet hat. Die Leute machen sich keine Vorstellung, wie stark Schokolade duftet.

Es gibt da diese eine Illusion, von der Mary glaubt, dass alle Bewohner im Heim sie teilen, aber niemals darüber sprechen. Die Illusion, dass der Aufenthalt hier nur temporär ist, dass sie wieder nach Hause gehen werden. Was mit Derek geschah, machte Marys Illusion kaputt. Sie weiß jetzt, dass es möglich ist, aus dem Stuhl aufzustehen, durchs Zimmer zu laufen und auf der Stelle zu sterben. Sie kann die Illusion nicht mehr aufrechterhalten.

Wenn man allein ist, beginnt man im Innen zu leben. An einem stürmischen Nachmittag im November saß Mary neben Joyce in der Lounge. Joyce nahm ein Fußbad, und ihr Blick fixierte einen Punkt in mittlerer Entfernung, eine Stelle im Nichts, die sie oft ansah, wenn sie gerade nicht redete. Mary guckte zu ihr rüber. „Joycie ist am Meer“, sagte Mary. „Sie hat ein zusammengeknotetes Taschentuch auf dem Kopf.“ Joyce hörte sie nicht oder wollte nicht hören.

In ihren Träumen geht Mary rückwärts, zurück in ihre Kindheit, zu den Sommern, zu dem Teleskop. Sie erinnert sich daran, wie sich das Teleskop anfühlte, und daran, wie ihr Bruder und sie das Stativ auf ihrem Bett platzierten und durchs Fenster zum Himmel hin ausrichteten. Manchmal hat Mary schlechte Träume, aber ihre Tage bleiben davon unberührt. Sie kann einen wunderschönen Tag haben und dann Furchtbares träumen, oder sie hat einen schlechten Tag und träumt etwas Fantastisches.

Jetzt, tagsüber, wach, sind ihre Gedanken meist bei Derek. Sie hat noch seinen alten Morgenmantel, einen Teil seiner Asche und einen Teddy, den Kerry ihr aus einem seiner Hemden genäht hat. Und seine Tagebücher, in denen sie von ihrer gemeinsamen Zeit lesen kann, und von Sachen, über die Mary nichts wusste.

Es hat auch Vorteile, alt zu werden. Man kann unverschämter, unverblümter und ehrlicher sein

Vor Dereks Ankunft versuchte Mary einfach nur zu überleben. Man soll jeden Tag drei neue Dinge tun, hatte man ihr gesagt. Oder waren es drei neue Dinge pro Woche? Hauptsache den Geist fit halten. Puzzeln. Den Körper bewegen. Und dann war er da, singend.

Sie fühlt sich manchmal sehr allein. Es geht ihr dann schlecht. Ihr Bruder Ian hat neulich zu ihr gesagt: „Kein Wunder, du wurdest völlig aus der Bahn geworfen.“ Und trotzdem ist nicht alles schrecklich. Mary will, dass Sie das wissen. Es hat auch Vorteile, alt zu werden! Man kann unverschämter, unverblümter und ehrlicher sein. Man muss sich nicht zu Dingen drängen lassen, auf die man keine Lust hat. Man muss sowieso überhaupt nichts. Sie hat ihr ganzes Leben gekocht, versorgt, geputzt, Geld verdient und sich darum gekümmert, dass es allen gut geht, und es gab Shepherd’s Pie auf dem Tisch und umgeschlagene Manschetten. Jetzt kann sie sich endlich zurücklehnen. Heute muss sie nirgendwo sein.

So ist es jedenfalls für Mary. Jeder wird auf eigene Art und Weise alt. Was wissen wir überhaupt über das Alter, solange wir jung sind? Über die Alten denkt man oft wie über Kinder – man stellt sie sich alle irgendwie gleich vor, bis die Einzigartigkeit sich so sehr aufdrängt, dass sie nicht mehr abzusprechen ist.

Mary hat niemals mit all dem gerechnet. Während ihrer Zeit mit Derek fühlte sie sich nicht nur geliebt oder noch einmal jung, sondern wirklich wahrgenommen. Er hat ihr Leben weit aufgerissen, als es gerade so schien, als würde es nur noch enger werden, immer enger, unaufhaltsam.

Was für ein Glück, wirklich. Zu wissen, dass so etwas kurz vor dem Ende möglich ist.

Dieser Text erschien erstmals am 23. November 2023 im Guardian. Übersetzung aus dem Englischen: Lin Hierse

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6 Kommentare

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  • Danke für diesen schönen menschlichen Text.

    Das Ding ist doch, dass alte Menschen, wenn sie erst im Pflegeheim "verschwunden" sind, in der Gesellschaft nirgends mehr auftauchen, kaum jemand sich für sie interessiert und ihnen dort auch oft schlimme Dinge passieren, über die kaum was nach außen dringt.

    Ich habe selbst in 3 verschiedenen Pflegeheimen gearbeitet und die Menschen musiktherapeutisch betreut, ich habe Einiges von den Menschen mitbekommen, auch dass ihnen ihre Persönlichkeit abgesprochen wird und sie eher verwaltet als betreut werden. Der Einzug ins Heim und der Verlust der bisherigen Wohnung und Selbstwirksamkeit ist für viele ähnlich traumatisch wie ein Kriegserlebnis, sie müssen es einfach wegstecken, werden in dieser existenziellen Krise nicht unterstützt, da es an Kapazitäten mangelt und sie für die kapitalistische Gesellschaft eben nicht mehr wichtig sind. Didier Eribons neues Buch "Eine Arbeiterin" handelt vom Sterben seiner Mutter in einem Pflegeheim. Er beleuchtet darin die ganze Unmenschlichkeit, die eine solche Institution mit sich bringen kann.

    Wir brauchen mehr solcher Texte, die alten Menschen ihre Würde und Individualität und ihre einzigartigen Gefühle und Erfahrungen nicht absprechen, sie nicht abtun, ihre Relevanz und Schönheit zeigen. Da es oft schwer möglich ist, dass diese Menschen selbst noch über sich sprechen können, brauchen wir Menschen, die das einfühlsam an ihrer Stelle tun. Erzählen können, gesehen werden. Alle Menschen brauchen das.

  • Selten sind solche Geschichten doch gar nicht, meine Tante leitete über 20 Jahre ein Altenheim, ähnliches erzählt sie immer wieder. Diese hier finde ich sogar eher typisch. Weil die Frau aus ihren eigenen "Lebensgewohnheiten" heraus "ihren Schürzenjäger" seine "Lebensgewohnheiten" weiter ausleben lässt. In ihr hatte er eine Frau gefunden, die sich das bieten lässt und der "Schürzenjäger" wurde in seinem Tun dadurch noch bestärkt. Auch die Persönlichkeit des Herrn ist ziemlich typisch: Charmant, witzig, gesprächig. Ausbaden muss das dann das Personal. Für Leser klingt das sicher herzerwärmend. Ich schicke das mal meiner Tante und sehe sie im Geiste schon die Augen verdrehen.

  • Eine wirklich schöne Geschichte

  • Wundervoller, schöner Text... und doch eine wirkliche Geschichte...

  • Wie schön, wie tröstlich.

    In meinem Fahrradkreis lernte Klaus eine Christa kennen und brachte sie zu unserer Gruppe, beide waren noch fit und radelten zusammen und Christa sagte: Ist es nicht wunderbar, dass wir uns in unserem Alter noch so verlieben können.

    Aber nun kann Klaus nicht mehr radeln und er oder beide begleiten unseren Kreis mit dem Zug oder im Auto. Und ich bin so gespannt, ob sie dieses Jahr wieder dabei sein werden, ich hoffe es so sehr. Sie brachten so viel Optimismus und gute Stimmung für uns alle.

    • @Zeit und Raum:

      Es gibt Duo-Tandem-Fahrräder -beispielsweise das Fun2Go Parallel-Tandem. Da kann die zweite Person auch treten, muss es aber nicht. Vielleicht wäre das etwas für die beiden.