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Die EU vor der Europawahl 2024Moralisch-demokratisches Korrektiv

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Die EU steht unter anderem wegen ihrer Flüchtlingspolitik in der Kritik. Zu Recht. Und doch ginge es ohne die EU vielfach brutaler und ungehemmter zu.

Deutsche und griechische Polizisten bei einem Frontexeinsatz an der bulgarisch-türkischen Grenze im Februar 2024 Foto: Stoyan Nenov/reuters

I n der vergangenen Woche war ich mit einer Delegation in Griechenland. Auf dem Programm standen Gespräche mit Ärzt:innen, Hel­fe­r:in­nen und Geflüchteten. Sie berichteten Erschreckendes, wenn auch nichts Neues: Folter durch die Grenzpolizei, Tote bei Pushbacks, abgelehnte Asylsuchende ohne jeden Anspruch auf Lebensmittel. Am Ende sagte eine Delegationsteilnehmerin, was alle dachten: Das kann doch nicht wahr sein, dass da keiner was macht. Es lag auf der Hand, wer das sein müsste: die Europäische Union.

Die EU hat zwei Dinge, die heute nicht selbstverständlich, nicht ersetzbar, nicht verzichtbar sind: Moralisch-zivilisatorische Ansprüche, an denen sie festhält, obwohl sie dauernd selbst gegen diese verstößt – deren Einhaltung sich aber einfordern lässt. Und Einflussmöglichkeiten auf Regierungen in einem Maß, das es sonst nicht gibt.

Die Zivilgesellschaft kann protestieren, praktische Solidarität leisten. Aber viele ihrer Interventionen zielen darauf ab, dass Institutionen mit Macht eingreifen und Dinge verändern. Viele, denen Menschenrechte wichtig sind, sehen in der EU heute vor allem ein Projekt der Gewalt, eine Festung Europa: Frontex, Pushbacks, Tote im Meer und in der Wüste, Lager, Internierung, Gewalt, Zäune, kriminalisierte See­not­ret­te­r:in­nen, Asylrechtsabbau, Kollaboration mit Verbrechermilizen. Und es sind nicht nur die Grenzen: Zu schwacher Klimaschutz, Ermöglichen von Massenüberwachung, neoliberale Sozialpolitik, das fällt vielen zur EU ein. Und dafür gibt es gute Gründe.

Doch wer die EU darauf reduziert, verkennt eins: Könnten die Nationalstaaten heute so agieren, wie sie wollten, wäre vieles schlimmer. Es ginge brutaler zu, ungehemmter. Die EU ist, trotz allem, auch ein moralisch-demokratisches Korrektiv. Ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten verschafft ihr einen besonderen Einfluss, weit stärker als jener des Europarats, der Vereinten Nationen oder anderer nationaler Regierungen. Das ist nicht nur wegen des Geldes so, das aus Brüssel fließt. Es ist das institutionelle Geflecht, eine liberal geprägte politische Kultur, geteilte Normen, gewachsene Kooperation.

Länder können leicht in die Hände von Autokraten fallen

Nun könnte man sagen: Was nützt das? Offensichtlich hindert die EU ja beispielsweise Griechenland keineswegs daran, all die Rechtsverstöße zu begehen. Vielmehr zahlt sie viel Geld dafür, fordert unter anderem den Außengrenzenschutz, der all die schlimmen Dinge hervorbringt, aktiv ein.

Aber dieser Blick greift zu kurz. Ungarn oder bis vor Kurzem Polen zeigen, wie leicht nationale Regierungen in die Hände von Autokraten fallen können, die ganz offensiv Mindeststandards aufkündigen, Gesetze ignorieren. Kritische Medien, Zivilgesellschaft, demokratische Institutionen werden plattgemacht, Frauen- und Minderheitenrechte ebenso, die einzige Asylpolitik heißt: Knüppel frei.

Hoffnungen richten sich dann meist auf die EU. Auf wen sonst? Sie hat Möglichkeiten der Intervention. Und man kann versuchen, sie auf ihre Verfasstheit mit Mindeststandards und garantierten Rechten festzunageln. Das schafft einen gewissen Schutz, Haltelinien, Spielräume, wenn Regierungen ins Autoritäre kippen. Wie weit dieser Einfluss dann auch in einem prodemokratischen, fortschrittlichen, menschenrechtlichen Sinne genutzt wird, ist eine andere Frage.

Die Kommission versagt moralisch, wenn ihre Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU) wie im Februar 2020 Griechenland als „unseren Schild“ lobt, während am Evros mit aller Gewalt gegen Mi­gran­t:in­nen vorgegangen wird. Die EU versagt, wenn Ratspräsident Charles Michel Spanien und Marokko versichert, man unterstütze die Länder „voll und ganz“, nachdem am Grenzzaun von Melilla an einem einzigen Tag mindestens 27 Menschen getötet werden, wie im Juni 2022.

Die EU versagt, wenn sie die Sprachregelung der „hybriden Bedrohung“ übernimmt, mit der Polen 2021 seine gewaltsamen Massenpushbacks nach Belarus rechtfertigte. Und die Kommission versagt politisch, wenn sie allzu zögerlich ihre Handhabe gegen Regierungen wie jene in Ungarn oder bis vor Kurzem in Polen einsetzt. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.

Der Einfluss Rechtsextremer wächst

Denn die EU-Institutionen sind umkämpft, der wachsende Einfluss Rechtsextremer zeigt Wirkung, ebenso die Rechtsdrift der etablierten Parteien. Nicht zu Unrecht nannte die Linke Cornelia Ernst das neue Asylsystem GEAS einen „historischen Kniefall vor den Rechtspopulisten Europas“. Aber die EU hat eben nicht nur diese Seite.

Als die Türkei 1999 EU-Beitrittskandidatin wurde, ließ die Regierung dort massenhaft foltern. Die EU verlangte als Vorbedingung für Beitrittsgespräche, dass alle Verhafteten zu Beginn und dann wieder vor der Entlassung einem Arzt vorgeführt werden, damit mögliche Folterspuren entdeckt werden und die Hemmschwelle für Folter steigt. Man kann das bigott finden, doch eine mit solchen moralischen Ansprüchen nach außen bis heute oft auftretende EU ist unbestreitbar ein Fortschritt gegenüber Verhältnissen, in denen Folter offen befürwortet wird.

„Nach der zweiten oder dritten Warnung – bumm. Dann schießt die Kanone, ohne noch viel zu reden. Die Kanone tötet. Sonst kommen wir nie zu einem Ende“, so wollte einst der italienische Rechtspopulist Umberto Bossi den Flüchtlingsbooten entgegentreten. Als die Postfaschistin Giorgia Meloni 2022 ins Amt kam, hatte sie angekündigt, tatsächlich die Marine einzusetzen. Doch bisher zumindest unterscheidet sich ihre Regierungsführung nicht allzu sehr von jener der Vorgänger. Und das hat zweifellos mit der Einhegung durch die EU zu tun.

Die EU ist nicht gut, so wie sie ist. Sie ist ein unperfektes System, ohne Garantien. Doch gäbe es oberhalb der Staaten nichts mehr, dann wäre der Weg zur Gewalt oft noch viel kürzer. Deshalb ist es so wichtig, ihre Verfasstheit gegen die drohende weitere Aushöhlung durch Rechtsextreme zu verteidigen.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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8 Kommentare

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  • Es scheint mir doch ziemlich verwegen bis naiv, von der EU als 'moralisch-demokratisches Korrektiv' zu schreiben. 'Demokratie' meinte ursprünglich die 'Herrschaft des Volkes' und man muss sich weit davon entfernen, wenn man (i) die Zusammenkunft von RegierungsvertreterInnen aus (ii) elitären Wahlaristokratien noch als demokratisches Entscheidungsgremien.

    Das die Europäer moralisch-zivilisatorische Ansprüche haben, zeigen sie nicht erst seit der Gründung der EU, sondern mindestens seit der Zeit der Kreuzzüge und der frühen Kolonialisierung der Welt. Dabei ist der eigene Anspruch auf zivilisatorische Überlegenheit und moralisch Verlogenheit ungemindert groß.

    Mann kann und sollte es daher kritisch sehen, wenn die EU 'Einflussmöglichkeiten auf Regierungen in einem Maß, das es sonst nicht gibt', hat. Dabei sollte man den Einfluss der EU nicht überschätzen, denn (i) sind sich die Regierungen oft uneins und agieren nicht gemeinsam und (ii) verfügt die EU über nur begrenzte Mittel um auf Mitgliedsstaaten oder Drittstaaten Einfluss zu nehmen.

    Danach zu fragen, wie es heute ohne die EU aussehen würde, ist rein spekulativ. Was aber seit Jahren aus unterschiedlichen Beweggründen und mit verschiedenen Zielen gefordert wird, sind Reformen. Daran mangelte es bisher erheblich, vor allem wenn es um mehr Demokratie und Einhaltung der eigenen Werte ging. Ob nun ausgerechnet die Rechtsextremen eine Gefahr für eine demokratischeres und besseres Europa wären, ist zumindest fraglich, denn sie wären nur eine von mehreren Strömungen. Bisher scheint die größte Gefahr, die von Rechtsextremen ausgeht, die zu sein, dass die bürgerliche Mitte ihre Positionen anstandslos übernimmt.

  • Die EU wird kritisiert, weil sie engere Standards als die Mitgliedstaaten hat. Es ist ja absurd, dass immer so getan wird, als sein die EU der Buhmann.

    Nehmen wir das Thema Pushbacks, nach Recht der Mitgliedstaaten überhaupt kein Problem. Nur die EU darf das selbst nicht. Statt also Kampagne gegen Griechenland zu fahren, geht es gegen Frontexleute, die mit Griechen-GrenzerInnen zusammen arbeiten.

  • Es gibt sehr böse Menschen, die zB rein egoistisch handeln, andere Menschen sind ihnen einfach egal. Es gibt Menschen, die nur sehr kurzfristig denken - da steht dann der eigene Vorteil GEGEN andere. Der langfristige Vorteil, wenn alle zusammenarbeiten, wird nicht gesehen oder scheint zu ungewiss. Es gibt Mitläufer. Es gibt Menschen, die sich nicht die Mühe machen eigene Gewohnheiten zu öffnen und dadurch Wege für andere versperren ... und vieles mehr.

    Es ist gut, dass es eine Zivilgesellschaft gibt, die all das aufzeigt, auch anprangert und die Welt damit hoffentlich für alle ein wenig besser macht.

    Als DIE Sichtweise überzeugt es mich aber nicht. Ich denke, es gibt auch den Aspekt, dass vieles im menschlichen Zusammenleben nicht von Natur aus so angelegt ist, dass es widerspruchsfrei und glücklich abläuft. Das ist etwas, was wir als Menschen uns aufzubauen versuchen. Wir versuchen das teilweise ins Unbekannte hinein zu schaffen - mit vielen wirklich Unbekannten, d.h. wir wissen nicht wie es geht und ob es überhaupt geht.

    Die Konzentration auf den Kampf gegen das Böse kann man auch übertreiben, wenn man darüber die gemeinsame Aufgabe vernachlässigt, wie die Welt überhaupt aussehen könnte und welche Widersprüche sich jeweils ergeben. Für mich ist das ein Riesenthema - oft wird es aber als fast Nicht-Existent gesehen, weil man die Wirkung klar böser Menschen so dominant sieht.

  • Danke für den Kommentar!

    Die EU ist mehr als wichtig. Für den Frieden, für unsere Kinder. Und es ist ein andauerndes Projekt.

    Also, wählen gehen, Anfang Juni ist die Europawahl.

    • @Cervo:

      Schließe mich an. Es gibt nichts, was man nicht weiter verbessern kann, aber die EU ist ein insgesamt erfolgreiches Friedensprojekt.

    • @Cervo:

      "andauernd" ist schon das richtige Adjekriv.

      "fast unveränderbare ... wenn überhaupt dann nur zum schlechteren" sind andere passende...

      Die EU verhindert Schlimmeres sowie Besseres.

      Es gibt keine gemeinsame Vision außerhalb von wirtschaftlicher Stabilität, kaum Spielraum da wo er am nötigsten wäre und zu viel Spielraum wo es keinen geben sollte.

      Die Welt ist besser mit der EU, aber die EU ist gleichzeitig die schlechteste möchgliche Version von sich selbst.

      Wer das nicht versteht versteht auch nicht den Brexit. Dieser war zwar eine Fehlentscheidung... aber es ist kein Zufall das die "Leidenschaft" auf der Seite der Brexiteers war

      • @sociajizzm:

        "Es gibt keine gemeinsame Vision"

        Richtig, und die kann es auch nicht geben denn dafür fehlt jede Basis. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die EU, nicht mehr und nicht weniger.

      • @sociajizzm:

        Dass die Brexiteers Desinformation als Mittel der Wahl nutzten, wird das übrige getan haben