Bund-Länder-Beschluss zu Corona: Ein irreführender Indikator

Bund und Länder machen die Hospitalisierungsrate zum bundesweit einheitlichen Corona-Indikator. Leider ist sie schlecht berechnet und unbrauchbar.

Blick in eine Intensivstation, Patient und Oberärztin.

Eine Oberärztin mit einem Coronapatienten in einer Intensivstation in Thüringen, November 2021 Foto: Bodo Schackow/dpa

Man muss auch mal loben können. Und deswegen gleich vorab: Ja, es ist richtig gut, dass sich die Mins­ter­prä­si­den­t:in­nen mit den Ver­tre­te­r:in­nen der Bundesregierung endlich zusammengesetzt haben. Nach wochenlangem Zögern zwar erst, was angesichts der rasant ansteigenden Corona-Zahlen fatal ist – für viele sogar letal. Aber immerhin haben sie sich nun ohne allzugroßen Radau auf bundesweit geltende Maßnahmen geeinigt. Das war mehr als überfällig.

Richtig und wichtig ist auch, dass sie dem noch relativ neuen Warnwert, der Hospitalisierungsrate, landeseinheitliche Schwellenwerte gegeben haben, die nun in allen Bundesländern die gleichen Konsequenzen nach sich ziehen. Das macht das Handeln der Regierenden erklärbar, ein Fakt, der angesichts der verständlicherweise noch immer großen Verunsicherung durch die Coronapandemie nicht zu unterschätzen ist.

Dumm nur, dass sich die Ministerpräsidentenkonferenz mit der Hospitalisierungsrate den am schlechtesten berechneten Warnwert gewählt hat. Da nutzen auch die neu eingeführten Schwellenwerte 3, 6 und 9 nichts mehr. Sie gaukeln Klarheit vor, wo doch nur Tapsen im Nebel möglich ist.

Dabei könnte die Hospitalisierungsrate eigentlich ein klug gewählter Wegweiser sein. Sie gibt an, wie viele Menschen pro 100.000 Ein­woh­ne­r:in­nen in den letzten 7 Tagen wegen einer Covid-19-Erkrankung in eine Klinik aufgenommen wurden.

Leicht erkrankte Infizierte fallen raus

Anders als bei der 7-Tage-Inzidenz, die die Entwicklung aller neu registrierten Infizierten beschreibt, konzentriert sich die Hospitalisierungsrate nur auf diejenigen, die so schwer erkrankten, dass sie in Kliniken behandelt werden müssen. Infizierte ohne Symptome und auch nur leicht Erkrankte fallen raus. Sie misst damit den Stand der Pandemie tatsächlich an einem Punkt, an dem es heikel wird: in den Krankenhäusern.

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Das heißt, sie würde ihn messen, wenn es denn geeignete Daten gäbe. Die aber fehlen. Zwar veröffentlicht das Robert-Koch-Institut (RKI) seit Mitte Juli fast täglich die Hospitalisierungsrate. Aber zwischen dem Beginn des Krankenhausaufenthalts eines Covid-19-Falls und dem Zeitpunkt, an dem diese Information am RKI eingeht, entsteht ein zeitlicher Verzug. Und der beträgt teilweise mehrere Wochen.

Daher muss der Tageswert der Hospitalisierungsrate stets im Nachhinein nach oben korrigiert werden. Nicht um ein paar zu vernachlässigende Stellen hinter dem Komma, sondern meist um 80, manchmal sogar um 100 Prozent. Mit anderen Worten: Die tatsächliche Hospitalisierungsrate ist fast doppelt so hoch wie angegeben. Den exakten Wert kennt man erst Wochen später. Als aktueller Warnindikator ist die Hospitalisierungsrate somit schlichtweg unbrauchbar.

Am Montag vergangener Woche meldete das RKI zum Beispiel eine Hospitalisierungsrate von 3,93, mittlerweile wurde sie um 85 Prozent auf 7,26 korrigiert. Das RKI kennt und benennt das Problem in seinen Wochenberichten. Dort veröffenticht es mittlerweile regelmäßig eine Kurve mit der sogenannten „adjustierten Hospitalisierungsinzidenz“, die den erwarteten Wert hochrechnet.

In der jüngsten Ausgabe von Donnerstagabend ist die bundesweite Hospitalisierungsinzidenz schon auf 10 gestiegen – und zwar am vergangenen Samstag. Daten für die letzten Tage zeigt die Kurve nicht. Zudem kann man nicht einmal ausrechnen, wie sehr dieser Samstagswert angestiegen ist. Denn am Wochenende berechnet das RKI die Rate nicht, was sie nochmals unbrauchbarer macht.

Anscheinend fallend: Die 7-Tage-Hospitalisierungskurve des Robert-Koch-Instituts Infografik: RKI

Noch verwirrender ist, dass das RKI auf seiner Homepage eine Kurve der „7-Tage-Inzidenz Hospitalisierungen“ zeigt, die am Ende stets fällt. Sie erweckt also den Anschein, dass die Belastung der Krankenhäuser sinkt. Dabei fehlen bei den jüngsten Werten schlichtweg nur die Nachmeldungen. Eine irreführende Grafik, die schon zu zahlreichen Missverständnissen geführt hat – selbst in der Berichterstattung über die Pandemie.

So ist in vielen Medienberichten immer wieder zu lesen oder zu hören, dass die aktuelle Hospitalisierungsrate mit dem bisherigen Allzeithoch verglichen wird. Die 7-Tage-Inzidenz-Hospitalisierungen lag an Weihnachten letztes Jahr bei fast 16. Der am Donnerstag gemeldete Tageswert von 5,3 hörte sich da noch vergleichsweise harmlos an. Wenn man aber davon ausgehen muss, dass die Rate längst über 10 liegt und stetig steigt, sieht es schon ganz anders aus.

Ein Warnwert, der die Lage verharmlost. Geht es noch absurder? Leider ja. Denn nun soll dieser Wert bundesweit Orientierung geben. Legt man die vom RKI zuletzt veröffentlichten Hospitalisierungsraten der Länder zugrunde, dann würde in Hessen derzeit der Schwellenwert 1 überschritten. Geht man aber davon aus, dass der tatsächliche Wert mindestens 80 Prozent höher liegt, würde in Hessen Warnstufe 2 gelten.

Und rechnet man damit, dass sich die Rate sogar noch verdoppelt, würde sogar der Schwellenwert 3 überschritten und damit die höchste Warnstufe erreicht werden. In mindestens 13 der 16 Bundesländer sind wegen des Datenverzugs die Coronawarnstufen zu niedrig und damit die Gegenmaßnahmen unangemessen lau. Die Zahl der Infektionen wird unzureichend gebremst. Und am Ende sterben mehr Menschen als bei einem wirksamen Warnsystem. Könnte man da nicht einfacher Lotto spielen?

Oder die Coronamaßnahmen aus dem Kaffeesatz des Bundeskanzleramts herauslesen? Ganz so schlimm ist es nicht. Schließlich lässt sich aus den Änderungen der Hospitalisierungsrate noch immer eine Tendenz herauslesen. Dass aber die verantwortlichen Po­li­ti­ke­r:in­nen glauben, aus einem äußerst wackeligen Wert konkrete Schlüsse ziehen zu können, ist alles andere als beruhigend.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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