Vor dem Coronagipfel in Berlin: Die Pflicht der Regierenden

Ein Impfpflicht will die Politik vermeiden. Dafür ist sie verpflichtet, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn es nicht anders geht.

Menschen stehen auf einem Parkplatz und warten auf die Impfung

Impfen to go: Impfstation bei Ikea in Berlin-Lichtenberg Foto: Fabian Sommer / dpa

Es gibt Probleme, die komplex und schwer zu lösen sind. Das aktuelle deutsche Coronaproblem gehört nicht dazu. Es ist ganz einfach: Die Zahl der doppelt geimpften Erwachsenen in Deutschland ist zu niedrig, um die rollende vierte Welle und ihre Folgen abzufangen. Daher muss die Impfquote der über 18-Jährigen weiter erhöht werden – aber stattdessen haben Politiker Impfungen für Teenager und Auffrischungen für Hochbetagte empfohlen.

Zugleich wird der Impfwiderstand geadelt, indem der öffentlich-rechtliche Rundfunk ungefiltert absurde Vorbehalte wiedergibt – und indem ein Teil der Politik die Verweigerung zum Freiheitsrecht erhebt.

Aber was heißt hier Freiheit? Bedeutet Freiheit, sich dem wieder wachsenden Risiko einer Ansteckung auszusetzen und damit allen anderen eine nächste Maßnahmenwelle zuzumuten, inklusive Schulschließungen? Liegt Freiheit darin, Impfstoffe, die in vielen anderen Ländern fehlen, ungenutzt im Kühlschrank verfallen zu lassen? Bedeutet es Freiheit, lieber Behauptungen über Genveränderungen oder Pharmakomplotte zu glauben, anstatt sich über die Fakten zu informieren?

Über den Begriff der Freiheit kann man immer diskutieren, aber vermutlich sollte man angesichts der Lage doch besser jenes heiße Eisen ins Spiel bringen, das kein Politiker derzeit anfasst. Man wundert sich, warum. Eine Impfpflicht zu diskutieren und sogar zu beschließen, war vor knapp zwei Jahren immerhin möglich, in einer weniger schlimmen Lage: Es ging um Kinder und um die Masern. Allerdings stand damals auch keine Bundestagswahl kurz bevor.

Gemeinschaftsschutz durch Impfen

Jetzt aber ist die Situation deutlich ernster. Covid-19 betrifft alle und kann in jedem Alter zu Folgeschäden und zum Tod führen. Gegen Corona lässt man sich zudem vornehmlich impfen, um sich selbst zu schützen. Geimpfte können nicht mehr schwer erkranken. Das Risiko, andere zu infizieren, sinkt jedoch nicht auf null. Das bedeutet keinesfalls, dass es keinen Gemeinschaftsschutz gibt. Sondern, dass der Gemeinschaftsschutz nur erreicht wird, wenn sich sehr viele Menschen impfen lassen. Im besten Fall: Alle, für die es medizinisch möglich und nachweislich sicher ist. Also die Erwachsenen.

Daran führt kein Weg vorbei, wenn die Politik ihre vollmundigen Versprechen von offenen Schulen und Nie-Wieder-Lockdown im Ansatz halten möchte. Dass schnell gemachte Antigentests eine Verbreitung des Virus nicht verhindern, dürfte inzwischen übrigens klar sein. Solche Tests bieten bei hoher Inzidenz und gerade etwa in schlecht belüfteten Schulräumen keinen Gesundheitsschutz.

Wenn das Wort Impfpflicht deshalb schon nicht fällt, sollte man im Minimum von der Pflicht der Regierenden sprechen. Der Pflicht zum Beispiel, auch noch kurz vor einer Wahl unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn sie nötig sind – um die Impfkampagne zu reanimieren; um die Menschen zu schützen, für die man Verantwortung übernommen hat. Tatsächlich aber schließen im August bereits viele Impfzentren wieder. Kommt ja keiner mehr. Kann man nichts machen. Oder doch?

Man kann – oder könnte. Angefangen mit den niedrigschwelligen Impfangeboten, von denen Robert Habeck spricht, mit Zugangsbeschränkungen und dem Ende von kostenlosen Tests für Ungeimpfte, wie Winfried Kretschmann fordert – bis hin zur Impfpflicht, wenn alles andere zusammen keinen Erfolg verspricht.

Eine Impfpflicht war vor knapp zwei Jahren immerhin möglich: Es ging um die Masern

In der Realität aber stellt sich die Frage, ob ein Kanzlerkandidat, der von Freiheit und Wohlstand spricht, menschliche Gesundheit und sogar Menschenleben zu opfern bereit ist, damit Wahlberechtigte ungeimpft ins Restaurant dürfen – um am Wahltag dann das gewünschte Kreuzchen zu machen.

Womöglich kommt der Moment der Besinnung aber noch, in der Ministerrunde mit der Kanzlerin am Dienstag. Man kann sich leicht ausrechnen, wie aus dem einfachen bald wieder ein komplexes Problem wird. Schon jetzt ist die Hälfte der Menschen, die wegen Covid-19 ins Krankenhaus müssen, jünger als 65 Jahre. Ihre Zahl wird zunehmen, das Alter sinken.

Dagegen alles zu tun, was in der Macht der Regierenden steht, nicht zuletzt, um den nächsten Lockdown zu verhindern, ist erste und wichtigste Pflicht. Das bedeutet, dass die zu beschließenden Maßnahmen zur Erhöhung der Impfquote entweder so gut sind, dass sie das Ziel auch ohne Impfpflicht erreichen. Oder dass die Impfpflicht doch noch auf den Tisch kommt.

Die Freiheit der Menschen in diesem Land bleibt derweil die, sich impfen lassen zu können. Für sich selbst – und die Freiheit aller anderen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.