taz-Serie: Wohnen ist Heimat: Die Mieter-Metropole
Wuchermieten? Spekulanten, die die Stadt unter sich aufteilen? Es geht auch anders: In Wien herrschen mieterfreundliche Lebensbedingungen.
Michael Ludwig, der Häupl im Frühjahr politisch beerbte, war also genau der Richtige als Gastgeber der Europäischen Konferenz Leistbares Wohnen in wachsenden Städten, die Anfang Dezember in Wien stattfand. Denn gerade auf den Gebieten Mieterschutz und kommunaler Wohnbau genießt die österreichische Hauptstadt eine Sonderstellung. „Wir sind stolz, dass wir in vielen internationalen Rankings an erster Stelle stehen“, begann Ludwig seine Eröffnungsrede. Leistbares Wohnen sei dabei ein wichtiges Kriterium. Und Ludwig verwies auf die „seit 1919 durchgehend ungebrochene Tradition von gefördertem Wohnbau“.
Nun ist es heutzutage allerdings so, dass das Nebeneinander von unterschiedlichen Regelungen zu seltsamen Zuständen auf dem Mietsektor führt. Das 90-jährige Ehepaar Reinhard wohnt in einem hundert Jahre alten Gründerzeithaus auf 100 Quadratmetern für wohlfeile 380 Euro. Walter Reinhard hat nie woanders gewohnt. Ihr Sohn Ernst wohnt im selben Haus zwei Stockwerke höher und zahlt das Doppelte. Er ist erst vor knapp 20 Jahren dort eingezogen. Und Enkel Stefan zahlt für 60 Quadratmeter in einem Neubau an der Peripherie runde 1.000 Euro.
Ist der Spruch vom Mieterparadies Wien also nur schöner Schein, gültig für wenige Privilegierte, während die Masse wie etwa in München Wucherpreise bezahlen muss? Nicht ganz. Aber das zu erklären, bedarf es eines Ausflugs in die jüngere Sozialgeschichte.
Als vor einhundert Jahren die österreichische Republik ausgerufen wurde, avancierte Wien über Nacht von der Reichs- und Residenzstadt eines Imperiums zur Hauptstadt eines kleinen Rumpfstaates, der seine Identität erst finden musste. Inmitten einer katholisch-konservativ geprägten Alpenrepublik lag das sozialistisch dominierte Wien wie ein seltsamer Fremdkörper. Die damals viertgrößte Stadt der Welt beherbergte mit zwei Millionen Einwohnern mehr Menschen als heute. Viele von ihnen waren Zuwanderer aus den abgetrennten Teilen des Habsburger-Reiches, die zum größten Teil in elenden Wohnverhältnissen hausen mussten. Wasser und Toiletten auf dem Gang waren eher die Regel als die Ausnahme. Die sogenannten Bettgeher, meist Schichtarbeiter, die eine von anderen benützte Schlafstatt untertags mieteten, stellten ein weit verbreitetes Phänomen dar.
Wie das Rote Wien neue Standards setzte
Was das sozialdemokratisch regierte Wien in den folgenden Jahren auf den Weg brachte, wird bis heute weltweit als Pionierleistung gewürdigt. „Während des Weltkriegs und danach antworteten Künstler und Architekten auf die lange schwelende Krise der modernen Großstadt mit einem radikalen Konzept“, schreibt der Zeithistoriker Siegfried Mattl 2009 im Katalog zur Ausstellung „Kampf um die Stadt“ im Wien Museum: „Die Stadt müsse neu und nach dem Gesichtspunkt elementarer Bedürfnisse des Menschen gebaut werden.“
Statt des bis dahin herrschenden „spekulationsgeleiteten bürgerlich-liberalen Städtebaus“, wie Mattl schreibt, stand plötzlich der Wohnungsbau im Mittelpunkt. Dabei sollte öffentliche Kontrolle über Grund und Boden die Spekulation verhindern. Die neuen Gemeindebauten waren als kleine Universen konzipiert, wo Kinderhorte, Bibliotheken, Waschküchen und andere Gemeinschaftseinrichtungen das Leben des Proletariats erleichterten und den Geringverdienern gleichzeitig zu mehr Würde verhalfen. Denn anders als die sozialistischen Plattenbauten im späteren Ostblock stellten die kommunalen Wohnkomplexe einen hohen Anspruch an Lebensqualität und architektonische Ästhetik. Die Väter des Roten Wien hatten außerdem die Weitsicht, kommunalen Wohnraum quer durch die Stadt zu schaffen und damit der Ghettobildung vorzubeugen. Um öffentliche Schwimmbäder, Büchereien und Turnvereine entstand eine neue Arbeiterkultur.
Bis 1933 wurden 63 Gemeindebauten unterschiedlicher Größe errichtet. Dann machte der austrofaschistische Ständestaat, der die Sozialdemokraten in die Illegalität trieb, damit Schluss.
Gemeindewohnung verkaufen? Das will niemand mehr
Unter Beschuss kam das Modell des kommunalen Wohneigentums europaweit rund 70 Jahre später. In den 1990er Jahren galt die Privatisierung öffentlichen Eigentums als letzter Schrei der Modernisierung. „Wien hat den katastrophalen Fehler deutscher Städte nicht gemacht, nämlich preislich reglementierten Wohnbestand zu verkaufen“, sagt Christoph Chorherr, ein Stadtrat der Grünen im Wiener Rathaus. „Heute denkt niemand mehr daran, die Gemeindewohnungen zu verkaufen“, freut er sich: „Sie sind ein Puffer für die Ökonomie des Wohnbauss“ Selbst die Bundesregierung unter Sebastian Kurz (ÖVP), die allem, was nach Sozialismus riecht, den Kampf angesagt hat und das rot-grün regierte Wien bei jeder sich bietenden Gelegenheit attackiert, zeigt keine Bestrebungen, den sozialen Wohnbau in der Hauptstadt in Frage zu stellen.
Allerdings wurde in den 1990er Jahren in Wien das Mietrecht novelliert. Das hielt man auch in der SPÖ für notwendig, da die extrem mieterfreundliche Rechtslage Investoren abschreckte, neue Wohnhäuser zu errichten. Für nach 1945 erbaute Häuser gelten seither weitgehend die Regeln des freien Markts.
Im Laufe der Jahre habe sich dann auch der Wohnbau immer mehr liberalisiert, sagt der Grüne Christoph Chorherr: „Die jahrzehntelange Praxis, zwei Drittel der Neubauten irgendwie preislich reguliert zu halten, hat sich umgedreht: Jetzt werden zwei Drittel frei finanziert.“ Die steigenden Grundkosten hätten dann dazu beigetragen, dass sich viele Menschen neue Wohnungen nicht mehr leisten konnten. Das habe sich durch die Finanzkrise noch verschärft, bekräftigt Martin Orner, Geschäftsführer der gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft EBG. Denn die Finanzinvestoren hätten zunehmend Immobilien als sichere Anlage gesucht. Deswegen habe sich die Stadt Wien aus dem Wohnungsbau zurückgezogen. In den letzten 15 Jahren sind keine Gemeindebauten mehr errichtet worden. Das Argument: die Stadt könne bei den herrschenden Grundstückspreisen keine leistbaren Wohnungen mehr errichten.
Wie eine neue Bauordnung die Bodenpreise senken soll
Das wird sich jetzt ändern. Christoph Chorherr, einer der Pioniere des energieneutralen Passivhausbaus, verweist auf die im vergangenen November vom Stadtrat beschlossene neue Bauordnung, „auf die ich sehr stolz bin, weil sie uns vor dem deutschen Schicksal bewahren soll“. Die Regelung sieht vor, dass Agrar- oder Industrieflächen, die für den Wohnungsbau umgewidmet werden, zur Hälfte nicht teurer verkauft werden dürfen als 250 Euro pro Quadratmeter. Der Marktpreis für Boden pendle aber selbst am Stadtrand zwischen 800 und 1.000 Euro, sagt Martin Orner von der Wohnbaugenossenschaft EBG, der die neue Bauordnung ausdrücklich begrüßt.
Diese Begeisterung wird nicht von allen geteilt. ÖVP-Stadtrat Markus Wölbitsch spricht von einer „retrosozialistischen Kampfansage“. Die konservative Partei sieht einen unerlaubten Eingriff in den freien Markt. Die ÖVP will stattdessen das Wohnungseigentum fördern. Solange Mieten so günstig sind, wird Eigentum in Wien allerdings wenig populär bleiben. Martin Orner rechnet vor, dass Kaufen sich nur lohnt, wenn man den Erben etwas hinterlassen will.
Christoph Chorherr ist zuversichtlich, dass die Regelung vor dem Verfassungsgerichtshof bestehen wird. Schon früher hätten die Richter „zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens und leistbaren Wohnraums maßvolle Eingriffe“ gebilligt. „Wir greifen ja nicht in bestehende Rechte ein“, stellt Chorherr klar: „Wir nehmen dem Bauern den Acker nicht weg. Aber wenn er eine Bauwidmung haben will, kriegt er sie nur, wenn er leistbares Wohnen macht.“ Martin Orner macht das in konkreten Zahlen deutlich: „Ein Hektar Ackerland hat derzeit einen Verkehrswert von 300.000 Euro. Wenn ich umwidme in reines Bauland, dann bekomme ich 12 Millionen – mit der neuen Regelung nur circa 6,5 Millionen Euro.“ Immerhin eine Wertsteigerung um mehr als das Zwanzigfache.
Wien zählte in den letzten Jahrzehnten zu den am schnellsten wachsenden Städten Europas. Von 1,5 Millionen Einwohnern ist es – vor allem durch Zuwanderung aus der Provinz und aus dem Ausland – auf 1,9 Millionen angewachsen. Obwohl sich die Wachstumskurve etwas abgeflacht hat, wird Wien noch vor dem Jahr 2025 die Zweimillionengrenze erreichen.
Die notwendige Stadterweiterung der letzten Jahre lag in der Hand freier Unternehmer und gemeinnütziger Genossenschaften. Da der zusätzliche Wohnraum die Nachfrage nicht deckt, sind die Mietkosten auf dem freien Markt explodiert.
Geht doch: modernes Wohnen in attraktiven Stadtteilen
Auf älteren Stadtplänen ist das Sonnwendviertel nicht zu finden. Ein Park ist nach dem vor zehn Jahren verstorbenen ehemaligen Wiener Bürgermeister Helmut Zilk benannt. Beim Umbau des Südbahnhofs zum neuen Hauptbahnhof ist ein Teil der Gleiskörper verschwunden. Dort erhebt sich jetzt ein Neubau neben dem anderen.
Ecke Sonnwendgasse/Sir-Karl-Popper-Straße liegt ein von der EBG errichteter Genossenschaftsbau. Geschäftsführer Martin Orner hat dort in der Gemeinschaftsküche einen Plan der Anlage an die Wand geklebt. Durch die Glaswände blickt man auf den Spielplatz mit Sandkiste und den Grillplatz. Die Mieter der 427 Wohnungen zahlen durchschnittlich 7,50 Euro pro Quadratmeter. Inkludiert sind die Benutzung von Theatersaal und Bühne, Kinosaal und Schwimmbad. Wer die Sauna buchen will, zahlt die Stromkosten. Alle Einrichtungen können elektronisch reserviert und dann mit einer Chipkarte geöffnet werden. Wenige Schritte von der U-Bahn entfernt, können Bewohner dieses Viertels in 20 Minuten den Stephansplatz im Herzen der Stadt erreichen. Etwa ebenso lang braucht man zum Thermalbad Oberlaa an der Peripherie der Stadt.
Eine ganz andere Geschichte hat der Kauerhof, der vor einem Vierteljahrhundert als einer der letzten Slums in Wien Schlagzeilen machte. Skrupellose Hauseigentümer vermieteten dort heruntergekommene Wohnungen zu Wucherpreisen an Arbeitsmigranten. „Wir haben dort in einer Einzimmerwohnung 30 Pakistanis gefunden“, sagt Stefan Loicht von der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA), die der Gewerkschaft gehört. Altmieter sollten hinausgeekelt werden. Die Bauten drohten wegen fehlender Instandhaltungsarbeiten zu verfallen.
Da schritt die Stadt Wien ein, verordnete wegen drohender Gefahr Renovierungsmaßnahmen und gab diese selbst in Auftrag. Als die Kosten dafür eingetrieben wurden, meldeten die Eigentümer Konkurs an. Die Spekulanten waren gezielt in den Bankrott getrieben worden, gibt Loicht mit einem leicht schadenfrohen Grinsen zu. Die WBV-GPA konnte günstig vom Masseverwalter kaufen. „Wir haben die Wohnungen saniert und 21 Dachgeschosswohnungen dazugebaut“, sagt Loicht. Für die Altmieter blieben die günstigen Mieten von 5,75 pro Quadratmeter bestehen. Zusätzliche und frei werdende Wohnungen werden bevorzugt an Gewerkschaftsmitglieder vergeben.
Das Problem: Neu-Wiener haben schlechte Karten
Voll des Lobes für die Wiener Wohnpolitik ist die Architektin, Stadtplanerin und Stadtforscherin Gabu Heindl, die allerdings auf die Hürden für den Zugang zum geförderten Wohnen hinweist. Anspruchsberechtigt ist nämlich nur, wer mindestens zwei Jahre in Wien gemeldet ist. In der Praxis würden oft fünf Jahre verlangt. Heindl: „Das ist ein Problem, weil es in Kombination mit neuen Mietverträgen, die fast nur noch auf drei Jahre befristet sind, einer immer größer werdenden Gruppe unmöglich ist, auf diese fünf Jahre zu kommen – im Vergleich zu denen, die schon im System sind.“ Konkret betreffe das „BinnenmigrantInnen, StudentInnen, aus der EU und von anderswo, oft Menschen, die per se schon besonders verletzlich sind. Sie „haben, solange sie befristet mieten, kaum Chancen, da reinzukommen“.
Diese Hürde besteht auch für Obdachlose, für die sonst in Wien viel getan wird, bestätigt Elisabeth Hammer, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (Bawo). Das sei aber nicht das einzige Problem: „Es bedarf hoher Kompetenzen im Umgang mit dem Internet und gewisser Kenntnisse der bürokratischen Vorgaben, um zu durchschauen, wie man zu einer öffentlich vergebenen Wohnung kommt.“ Auch der Eigenanteil von mindestens 3.000 Euro, der für eine geförderte Genossenschaftswohnung zu entrichten ist, sei für viele nicht leistbar. Die Sozialwissenschaftlerin, die die Obdachloseneinrichtung Neunerhaus leitet, findet, Wien hätte alle Voraussetzungen, europaweit zu einer Vorzeigestadt zu werden: „Es gibt 5.000 Wohnplätze für obdachlose Menschen, es gibt 1.000 durchgängig offene Notplätze. Wien hat da, finanziert durch das Sozialressort, ein gutes und integriertes Angebot, worum uns viele Städte beneiden.“ Die 5.000 Plätze sind keine Betten in Massenquartieren, sondern echte Wohnungen für eine begrenzte Zeit. Wenn nur 1.000 neue Wohnungen für Wohnungslose dazukämen, so Hammer, hätte Wien das Obdachlosenproblem binnen weniger Jahre gelöst.
Obdachlosigkeit: Reden statt räumen
Die meisten Obdachlosen waren nach einem Jobverlust und/oder der Scheidung plötzlich nicht mehr in der Lage, ihre Miete zu bezahlen. Auch aus Sozialwohnungen kann man delogiert, also zwangsweise entfernt werden. „Was mich bei Delogierungen im kommunalen Wohnbau verblüfft“, sagt Elisabeth Hammer, „sind die durchschnittlichen Mietrückstände von 2.500 Euro. Der Verstand sagt, dass das verhandelbar sein müsste.“
Das dürfte auch den Verantwortlichen der Stadt Wien aufgegangen sein. Vor Kurzem wurde eine Delogierungsprävention im kommunalen Wohnbau eingerichtet. „Es werden nicht Briefe geschickt, sondern Personen aufgesucht und unterstützt, damit sie die Wohnung behalten können“, sagt Elisabeth Hammer: „Mehr als die Hälfte der Wohnungen kann damit gesichert werden.“
Für die Architektin Gabu Heindl müssen noch die Strukturen der Wohnpolitik durchlüftet werden: „Dem Wiener Wohnbau ist seit Beginn, seit den 1920er Jahren, ein Paternalismus inhärent – der Anspruch, dass eine Zentralautorität weiß, was die Leute brauchen.“ Nämlich ein Versorgungskonzept an Wohnraum, das sich in standardisierten, für Kleinfamilien zugeschnittenen Wohnungen äußert und wenige Möglichkeiten zur Eigeninitiative bietet. Wohngemeinschaften leben in der Regel in geräumigen Altbauten. „Entweder du passt in das Schema rein oder du passt dich rein“, so Heindl, „Für alternative Wohnformen ist da wenig Platz.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?