Entdeckung des Planeten Neptun: Der Himmel über Berlin
Geschichte und Astronomie: Wie Johann Gottfried Galle auf dem Gelände des taz-Neubaus den Planeten Neptun entdeckte.
Es war der 23. September 1846. Überrascht hielt der 32-jährige Astronom Johann Gottfried Galle in der Königlichen Berliner Sternwarte einen Brief aus Paris in der Hand. Es gebe am Himmel etwas Bedeutendes zu entdecken, schrieb sein berühmter französischer Kollege Le Verrier. Nämlich einen bisher unbekannten Planeten.
Aber die Geschichte begann 65 Jahre zuvor, als der britische Astronom William Herschel beim Durchmustern des Sternbilds Zwillinge auf einen „Nebelstern“ – so seine Notizen – stieß, den er zunächst für einen Kometen hielt. Doch es war der Planet Uranus, der dann auch den Weg zu Neptun weisen sollte.
Herschel stammte aus Hannover. Als Zwanzigjähriger war er nach England gezogen, wurde Organist in Bath und änderte seinen Vornamen von Friedrich Wilhelm zu William. Aber zunehmend begeisterte ihn der Sternenhimmel, den er mit selbst gebauten Teleskopen bestaunte. Wie der britische Autor Tom Standage in seinem Buch „Die Akte Neptun“ beschreibt, wurde Herschel zu einem der fähigsten Beobachter und Instrumentenbauer seiner Zeit. Seine Musikschüler klagten, dass sein Klavier kaum noch zwischen all den „Globen, Karten, Teleskopen und Spiegeln“ zu finden war. Den Uranus erblickte er mit einem Teleskop, dessen Spiegel aus einer Speculum genannten Legierung von Kupfer, Zinn und Arsen bestand.
Weitere Beobachtungen und Bahnberechnungen zeigten, dass es sich bei Herschels unbekanntem Himmelsobjekt nicht um einen Kometen, sondern um einen Planeten handelte. Mit der Entdeckung des Uranus hatte Herschel gezeigt, dass das Sonnensystem nicht mit dem seit dem Altertum bekannten Saturn endet, sondern doppelt so weit ins All hinaus reicht. Eine wissenschaftliche Sensation war das, die Herschel berühmt machte und ihm eine Einladung an den Hof König Georgs III. einbrachte – und dann auch eine jährliche Pension, die es Herschel erlaubte, sich ganz der Astronomie zu widmen.
Ein Planet jenseits des Uranus
Unter Astronomen brach das Entdeckerfieber aus. Ihr Augenmerk richtete sich auf die unerklärliche Lücke zwischen Mars und Jupiter, denn eigentlich wuchsen die Abstände zwischen den übrigen Planeten gleichmäßig mit ihrem Abstand von der Sonne. In Hannover wurde 1800 von 24 Astronomen aus ganz Europa ein „Verein der Planetenjäger“ und eine monatliche Zeitschrift gegründet, um über die Fortschritte bei der Suche zu berichten. Mitgründer Baron Franz Xaver von Zach nannte den Verein „Himmels-Polizey“. Sie teilten die Sternbilder des Tierkreises, den auch alle anderen Planeten durchliefen, unter sich in 24 Abschnitte ein, die sie systematisch abzusuchen begannen. Crowdsourcing war schon damals ein Konzept.
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Rasch wurden sie fündig: In der Neujahrsnacht 1801 entdeckte Giuseppe Piazzi in Palermo den Kleinplaneten Ceres, in der Tat auf einer Bahn zwischen Mars und Jupiter. Bis 1807 hatte man mit Pallas, Juno und Vesta drei weitere lichtschwache Himmelskörper auf ähnlichen Umlaufbahnen gefunden, die alle viel kleiner als die bekannten Planeten waren.
Niemand dachte zunächst ernsthaft daran, nach einem Planeten noch jenseits des Uranus zu suchen. Doch um 1825 fiel auf, dass Uranus sich nicht so auf seiner Bahn bewegte, wie er es nach den Berechnungen tun sollte. Zuerst vermuteten die Astronomen Irrtümer in ihren Aufzeichnungen. Aber die Unregelmäßigkeiten wurden immer auffälliger: Eine neue Theorie gewann Anhänger: Ein Objekt weiter draußen zerrte offenbar an Uranus. Mehrere Astronomen machten sich daran, aus den Bahnunregelmäßigkeiten zu errechnen, wo sich der unbekannte Himmelskörper befinden müsste. Das war eine hochkomplexe Aufgabe. Der erste, der sich daran wagte, war der britische Mathematiker John Couch Adams. In einem Buchladen hatte er ein Buch des Astronomen George Biddell Airy über die „Fortschritte in der Astronomie“ entdeckt, in dem die Probleme mit der Uranusbahn beschrieben wurden.
Adams wollte das Rätsel unbedingt lösen. Über Monate brütete er Nacht für Nacht über einem Satz Gleichungen mit 18 Unbekannten. Immer wieder berechnete er unterschiedliche Varianten der Masse und Bahn des angenommenen neuen Planeten und glich die Ergebnisse mit den beobachteten Uranuspositionen ab. Ende September 1845 war der erst 26-Jährige am Ziel. Er beschloss, das Resultat seiner Berechnungen direkt dem Royal Astronomer in Greenwich zu übergeben – jenem George Airy, dessen Buch ihn auf die Spur gebracht hatte. Adams traf Airy in dem Observatorium nicht an und hinterließ nur das Blatt Papier mit der von ihm berechneten Position des unbekannten Planeten. Airy bat danach Adams schriftlich um mehr Informationen, bekam sie aber nie von ihm. So hielt er Adams Berechnung zunächst für Hokuspokus.
Auch der französische Astronom Urbain Jean Joseph Le Verrier, Dozent an der Parise École Polytechnique, berechnete 1845 den Ort des unbekannten achten Planeten. Er ging dabei anders vor, und er lag nur um zwei Vollmondbreiten falsch. Er hatte keine Ahnung, dass Adams in England schon zu einem ähnlichen Resultat gekommen war. Airy erfuhr von Le Verriers Berechnungen. Er war damit der einzige, der auch von Adams’ Bemühungen wusste. Airy hatte nun offenbar keine Zweifel mehr. Er sagte auf der Jahresversammlung der Royal Astronomical Society, es sei sehr wahrscheinlich, „dass in naher Zukunft die Entdeckung eines neuen Planeten gemacht wird, vorausgesetzt, eine Sternwarte konzentriert ihre Anstrengungen auf die Suche“.
Aber erst auf Drängen John Herschels, des gleichfalls astronomiebegeisterten Sohnes von William Herschel, war der britische Astronom James Challis bereit, mit dem großen Linsenteleskop der Universität Cambridge nach ihm zu suchen. Er rechnete mit mehreren Monaten Arbeit, bis er das fragliche Gebiet neu kartiert hatte, denn er verfügte über keine Himmelskarte mit solch schwachen Sternen. Allerdings er war zu schlampig, seine Beobachtungen verschiedener Tage dann auch genau zu vergleichen. Erst später erkannte er zu seinem großen Verdruss, dass er Neptun im August 1846 auf seinen Skizzen eingezeichnet hatte.
Sie holten Encke von seiner Geburtstagsfeier
Hier kommt Johann Gottfried Galle und die Berliner Sternwarte ins Spiel. 1830 war sie aus der Dorotheenstraße auf ein neues, einen Hektar großes Gelände am damaligen Stadtrand umgezogen, am heutigen Besselpark zwischen Friedrich- und Lindenstraße.
Hier durfte sie – auf Drängen Alexander von Humboldts am königlichen Hof – über ein angemessenes, von Karl Friedrich Schinkel entworfenes Gebäude verfügen und endlich auch über ein leistungsfähiges Linsenteleskop mit einem Objektiv von 23 Zentimetern Durchmesser und 4,30 Metern Brennweite. Le Verrier hatte Galles Dissertation über Planetenbahnen erhalten und war von dem jungen Wissenschaftler beeindruckt. Da er in Frankreich keinen Astronomen gefunden hatte, der zur mutmaßlich mühsamen Suche nach dem neuen Planeten bereit war, wandte er sich an Galle. Le Verrier schrieb: „Heute möchte ich von dem unermüdlichen Beobachter verlangen, daß er einige Augenblicke der Durchforstung einer Region des Himmels widmen möge, wo es einen Planeten zu entdecken geben kann.“
Der Himmel über Berlin am Abend des 23. September 1846 war wolkenlos, und Galle machte sich unverzüglich an die Arbeit. Er stützte sich auf die neue, noch unvollständige, aber präzise „Berliner Akademische Sternkarte“. Das entscheidende Blatt mit dem Sternbild Wassermann war schon fertig und fand sich auch im recht unordentlichen Aktenschrank des Sternwartendirektors Johann Franz Encke. Galles Assistent Heinrich Louis d’Arrest hielt fest: „Ich setzte mich mit der Karte an einen Schreibtisch in der Kuppel, während Galle, der durch den Refraktor blickte, mir die Daten der Sterne durchgab, die er sah“. Kurz vor Mitternacht konnte Galle mit dem Auge am Teleskop seinem Assistenten verkünden: „Dieser Stern ist nicht auf der Karte!“
Aufgeregt holten sie Encke von seiner Geburtstagsfeier. Alle drei waren sich einig, dass der fragliche „Stern“ in der Tat kein Lichtpunkt war, sondern als winziges Scheibchen erschien. Weitere Beobachtungen in den folgenden Tagen führten zu dem Schluss, dass dies tatsächlich der mathematisch vorausgesagte unbekannte Planet sein musste.
Galle schrieb an Le Verrier: „Der Planet, dessen Position Sie errechnet haben, existiert tatsächlich.“ Le Verrier antwortete umgehend: „Ihnen ist es zu verdanken, dass wir nun mit Bestimmtheit in den Besitz einer neuen Welt gelangt sind.“ Es folgte aber, ausgelöst durch die blamablen Versäumnisse des britischen Astronomen Challis, ein jahrelanger Streit um das Anrecht, die Entdeckung des Neptun für sich zu beanspruchen, einhergehend mit dem Recht, dem neuen Planeten einen Namen zu verleihen.
Heute erinnert nur die nach dem Direktor der Sternwarte benannte Enckestraße an den Standort des Observatoriums, das 1913 wegen der zunehmenden Luft- und Lichtverschmutzung nach Babelsberg umzog. Das alte Schinkel-Gebäude wurde 1913 abgerissen, das von Galle 1846 benutzte Linsenteleskop steht heute im Deutschen Museum in München.
Heute weiß man auch, dass nicht nur Challis Neptun bereits gesehen hatte. Der Franzose Michel de Lalande hatte ihn 1795 bei der Vorbereitung eines Sternkatalogs verzeichnet, und sogar Galileo Galilei hatte Neptun 1613 auf Skizzen der Jupitermonde vermerkt.
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