Linker Ökonom Samir Amin gestorben: Abschied von einem Marxisten
„Bei Marx beginnen und nicht bei Lenin oder Mao enden“ – so beschrieb Globalisierungskritiker Samir Amin seine Haltung. Nun ist er in Paris gestorben.
„Kreativer Marxist“, so beschrieb Samir Amin sich selbst. Für ihn hieß das: „Bei Marx beginnen und nicht bei Lenin oder Mao enden.“ In der Tat hat der 1931 in Kairo als Sohn eines ägyptischen Vaters und einer französischen Mutter geborene Intellektuelle die Entwicklung vom panarabischen Sozialismus der 1950er Jahre bis zur modernen Globalisierungskritik der Gegenwart durchgemacht – nicht ohne dabei manchem Irrweg zu folgen.
So begrüßte er anfangs das blutige Regime der Roten Khmer in Kambodscha wegen seiner „raschen De-Urbanisierung und seiner ökonomischen Autarkie“ als vermeintliches Vorbild für Afrika. Der Versuch der Diktatur von Pol Pot, ab 1975 gewaltsam einen Agrarkommunismus zu verwirklichen, endete im Genozid.
Während des Wirtschafts- und Politikstudiums in Paris trat Amin der französischen Kommunistischen Partei bei, verurteilte aber später das Sowjetregime und ging nach längerem Liebäugeln mit dem Maoismus auch zu China auf Distanz. Gemeinsam mit André Gunder Frank vertrat er die Dependenztheorie: Für Afrika bedeutete sie, dass die Ausbeutung afrikanischer Rohstoffe zu den vom Westen diktierten Bedingungen eine echte Befreiung der gerade erst entkolonisierten Länder nicht zulassen würde. Amin empfahl diesen Ländern, sich „abzukoppeln“. Damit lehnte er Handel nicht prinzipiell ab, sondern Handelsabkommen aus einer Position der Schwäche.
Vordenker der postkolonialen Befreiung
Als Leiter des Forum Tiers Monde in Dakar, Senegal, war Amin lange Jahre der Vordenker der postkolonialen Befreiung vom Joch des weltweiten Freihandels. Der moderne Kapitalismus, so Amin in seinen Schriften, verfolge nach einer Phase der Unterordnung unter soziale Kompromisse die Rückkehr zu seiner eigentlichen Utopie – der Unterwerfung des gesellschaftlichen Lebens unter die exklusive Logik des Marktes und der unverhüllten Globalisierung. Zuletzt stand Amin der internationalen Bauernbewegung La Vía Campesina nahe, die die kleinbäuerliche Landwirtschaft als Voraussetzung für eine eigenständige Entwicklung der Staaten des Globalen Südens betrachtet.
Amin sah die Islamisierung in Ländern des Maghreb und des Nahen Ostens mit großer Sorge. Die Muslimbruderschaft in seinem Heimatland Ägypten kritisierte er nicht nur als rückschrittliche islamistische Kraft, die statt sozialer Reformen das Wohltätigkeitswesen predigte – für ihn war sie auch ein Verbündeter des weltweiten Kapitalismus, der hinter der Maske des offenen Marktes die Politik der Abhängigkeit akzeptierte.
Amin starb am 12. August 86-jährig in einer Klinik in Paris.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen