Unkritische Berichte über Wacken-Festival: Rentner lustig entmündigt
Zwei Senioren besuchen nachts das Wacken-Festival. Die Polizei eskortiert sie ins Altersheim zurück. Ist das als selbstverständlich hinzunehmen? Nein.
„Die verrückte Irrfahrt der Heavy-Metal-Rentner“ titelte etwa Spiegel Online: „Offenbar verwirrt“, seien die „betagten Herren“ gewesen und aus ihrem Altersheim „ausgebüxt“, heißt es in der Unterzeile. Die Sprache signalisiert: Hier darf sich amüsiert werden, nicht mit, sondern über die Irren, die man nicht ernst nehmen muss. Denn „ausgebüxt“ seien sie und das ist ein Wort, mit dem man zuletzt das Schwein beschrieb, das im Hamburger Elbtunnel aus einem Schlachttransporter floh.
Andere Medien machten es ähnlich: „Wacken: Polizei bringt Metal-Fans zurück ins Altenheim“, formulierte die HAZ. „Sie wollten nach Wacken: Senioren hauen aus Heim ab“, lockte uns die Bild-Zeitung. „Gegen drei Uhr kümmerte sich eine Streife um zwei betagtere Herren, die an dem Metal-Festival offenbar Gefallen gefunden und sich aus einem Dithmarscher Altenheim auf den Weg gemacht hatten“, hieß es in dem Polizeibericht. „Natürlich vermisste man sie in ihrem Zuhause und organisierte rasch einen Rücktransport, nachdem die Polizei die Senioren aufgegriffen hatte“, schrieb die Polizei weiter. „Die Männer machten sich allerdings nur widerwillig auf den Heimweg, so dass ein Streifenwagen das beauftragte Taxi vorsorglich begleitete“.
Unhinterfragtes Kuriosum
Das Kuriosum, dass ältere Herren ein Festival für vermeintlich „junges“ Publikum besuchen, war vielen Zeitungen mindestens eine Meldung wert. Hinterfragt, ob die Senioren, die anscheinend immerhin „widerwillig“ waren, eigentlich von der Polizei zur Rückfahrt gezwungen wurden – und wenn, mit welchem Recht – haben die wenigsten. Der NDR immerhin zitierte eine Polizeisprecherin: Die Beiden hätten „desorientiert und apathisch“ gewirkt.
Eine echte Erklärung ist das nicht. Denn „desorientiert und apathisch“ ist ein Zustand, der sich von dem anderer Wacken-Besucher wohl kaum unterschied, die vielleicht delirant in ihren Zelten vegetierten, vielleicht im Dreck lagen und drohten, an ihrem Erbrochenen zu ersticken. Oder was man sonst eben so auf Festivals treibt.
Die Rentner aber waren angeblich zu verwirrt für Wacken und wurden vermisst. Doch muss man sie dafür wie kleine Kinder behandeln? Das fragten auch viele LeserInnen in den Kommentarspalten, denen das Problem auffiel, das sich bei den wenigen Informationen ergab, die berichtet wurden.
Peter Winterstein, Jurist
„Wieso darf ein Bewohner eines Altenheim nicht dort hingehen, wo es ihm gefällt?“, fragte ein HAZ-Leser. „Ein Pflegeheim ist keine JVA“, bemerkte ein Leser bei Spiegel Online. „Wer bestimmt, ob alte Menschen kein Heavy Metal Konzert besuchen dürfen?“, fragte eine Frau auf NDR.de.
Für den Juristen Peter Winterstein sind das die richtigen Fragen. Er war Vizepräsident des Oberlandesgerichts Rostock und kümmert sich als Vorsitzender des „Betreuungsgerichtstages“ um Fragen betreuungsrechtlicher Praxis. Auch er wundert sich über die Medienberichte. „Von alten Menschen wird erwartet, dass man sie bevormundet. Das ist völlig falsch“, sagte Winterstein der taz. „Auf Festivals sind viele Leute mit drogeninduzierten Verwirrtheitszuständen und es kommt keiner. Bei alten Menschen sind wir leider nicht so tolerant wie bei jungen. Die elementaren Menschenrechte sind noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen.“
Es geht um Freiheitsentzug
Letztendlich gehe es um die Frage, ob hier ein Freiheitsentzug stattgefunden hat, dem aber enge Grenzen gesetzt wären, so Winterstein. „Ein Altenheim kann nicht bestimmen, dass Bewohner wieder zurückzukommen haben.“ Dafür bräuchte es einen vom Gericht bestellten Betreuer, der ausdrücklich das Aufenthaltsbestimmungsrecht haben muss. Auch über sogenannte Vorsorgevollmachten könne man sich selbst in Abhängigkeit begeben, etwa von einem nahen Verwandten. Aber: „Wenn damit ein Freiheitsentzug verbunden ist, braucht es dazu eine ausdrückliche gerichtliche Genehmigung“, sagte Winterstein. „Wenn die beiden Männer mit Gewalt ins Taxi gezerrt wurden, gibt es ein Problem“.
Eine Ausnahme wäre eine Notmaßnahme der Polizei. Bei akuter Gefahr einer Selbstgefährdung habe sie die Befugnis, einzuschreiten. In jedem Fall fehle bei den Berichten eine Schilderung, auf welcher Grundlage gehandelt wurde.
Sprecher der Polizei Itzehoe
Auf Nachfrage erklärte ein Pressesprecher der Polizeidirektion Itzehoe am Montag zu den beiden alten Männern in Wacken: „Sie sind aus einer Pflegeeinrichtung entwichen“. Die Männer seien „als hilflose Personen aufgefallen“ und von einer Streife zunächst zu Sanitätern auf das Gelände gebracht worden. „In Rücksprache mit der Pflegeeinrichtung wurde ein Taxi bestellt, damit sollten die Beiden zurückfahren.“ Einer der Männer habe aber lieber mit einem Shuttlebus zurückfahren wollen. „Er wurde nicht unter Zwang weggebracht. Sie wollten zurück“, erklärte der Polizeisprecher. Auf Nachfrage, ob die beiden einen gesetzlichen Betreuer hatten, erklärte er: „So lese ich das heraus.“
Für Rolf Dieter Hirsch, Gerontopsychiater und früher Chefarzt der Rheinischen Kliniken Bonn, ist der Fall und vor allem die Berichterstattung darüber keine Überraschung. „Leider ist es gesellschaftlich fast selbstverständlich, dass man alle ab einem bestimmten Alter für verwirrt hält.“ Wenn ältere Menschen als sonderbar auffielen, werde oft die Polizei gerufen „und dann läuft die Maschinerie“. Dass Menschen das Heim verlassen, ist für Hirsch hingegen „das normalste von der Welt“: „Ich bin auch nicht gern da drin.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen