Fahrradfahren in der Hauptstadt: So müsste es immer sein

Es ist Sternfahrt in Berlin, und bis zu 100.000 Fahrradfahrer haben sich aus dem Umland in die Innenstadt aufgemacht. Für einen Tag ist es so, als gehöre den Rädern die Stadt.

Erhebend: Rad fahren auf der A100 Foto: Amélie Losier

Zu Anfang hat man den Eindruck: So könnte es in chinesischen Großstädten bis in die achtziger Jahre hinein ausgesehen haben. Räder, nichts als Räder. Und weil so viel Platz ist auf einem guten Teil von Berlins Straßen an diesem Sonntag, sind viele der Verkehrsregeln, an die man sich sonst zu halten hat, außer Kraft gesetzt. Von wegen rechts langsam und links schnell: Das Wasser findet seinen Weg, sagt man in China, wenn auch in den letzten Jahren nicht mehr in Bezug auf die Straßen, denn dort herrscht heute mehr Smog, Lärm und Stau als irgendwo sonst in der Welt.

Es ist Sternfahrt in Berlin, pünktlich zum 200-jährigen Geburtstag des Rads haben sich nach Schätzung der Veranstalter, des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs (ADFC), bis zu 100.000 Radler auf 19 Routen aus den Berliner Außenbezirken und dem Umland in die Innenstadt aufgemacht – bis zum Großen Stern. Eine tolle Veranstaltung besonders in Zeiten wie diesen in dieser Stadt, wo der Entwurf des lang ersehnten Radgesetzes auf sich warten lässt und sich Senat und Radlobby immer stärker entzweien.

Wer sich einmal an den Straßenrand stellt und die Leute beobachtet, die sich dem Tross angeschlossen haben, wird feststellen: Radfahren ist in Berlin bei Weitem nicht nur eine Herzensangelegenheit der gehobenen Mittelschicht, die gern den werten Nachwuchs in Lastenrädern transportiert, die so viel kosten wie ein gebrauchter Kleinwagen.

Da fahren auch ältere Herren im Karohemd mit, Pärchen in gleichfarbiger Funktionskleidung, Damen in den Fünfzigern mit großen Strohhüten, junge Frauen mit viel Sonnenbräune und in pinkfarbenen Muskelshirts. Rad fahren verbindet, es scheint, als sei es viel mehr Menschen aus viel mehr unterschiedlichen Milieus ein Anliegen, in dieser Stadt sicherer und komfortabler mit dem Rad fahren zu können, als man immer denkt.

Den Radlern gehört die Welt

Es ist herrlich, dass alle Ampeln abgeschaltet sind, die Stadt ist in süßen Lindenblütenduft getaucht, der Fahrtwind erfrischend genug, dass man trotz knallender Sonne nicht ins Schwitzen gerät. So müsste es immer sein. Doch plötzlich wird die Tour immer langsamer, am U-Bahnhof Grenzallee in Neukölln, wo es auf die Autobahn gehen soll, kommt schließlich alles zum Stehen. Denn hier treffen sich die Fahrer aus Oranienburg und Jungfernheide, Wandlitz und Ahrensfelde, Königs Wusterhausen und Zossen – und sogar aus Stettin, wo die ersten Fahrer schon am Samstagabend gestartet sein sollen, um hier endlich auf der A100 weiterzufahren.

Zwei Kolleginnen in engen Jeans und himmelblauen Blusen aus Reinickendorf unterhalten sich über ihren neuen Systemadministrator. Eine Dame um die 60 in weißen Hotpants, Silbersandalen und mit chilenischer Flagge am Rad singt auf Spanisch jeden einzelnen Schlager mit, der aus ihrem winzigen Soundsystem im Fahrradkorb dröhnt.

Radfahren ist in Berlin nicht nur eine Herzensangelegenheit der gehobenen Mittelschicht

Und dann ist man endlich um die Ecke, drauf auf dem Südring, drin im Autobahntunnel, der dort gleich beginnt. Großes Klingelkonzert, schon allein wegen des Halls. Erhebend ist gar kein Ausdruck. Den Radlern gehört die Welt!

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