Opferangehörige über die NSU-Morde: „Es waren eben nur Türken“
Vor einem Jahr flog die Terrorzelle NSU auf. Fadime Simsek, Nichte des ersten Opfers, über das Leben nach dem Mord und ihr verlorenes Vertrauen in die Behörden.
taz: Frau Simsek, was ist Ihre Lieblingsblume?
Fadime Simsek: Ich mag Callas sehr gerne (holt ein cremefarbenes Exemplar aus dem Flur). Schön, oder?
Waren das auch die Lieblingsblumen Ihres Onkels Enver Simsek?
Er liebte Rosen. Er stammte ja aus der Nähe der türkischen Stadt Isparta, der Stadt der Rosen. Weil die Rosen aus Holland nicht richtig duften, hat er aus der Türkei immer Rosenduft mitgebracht und auf die Blumen geträufelt. Er wollte den Menschen eine Freude bereiten.
Was war er für ein Mensch?
Für mich war er ein Vorbild. Er war phantasievoll, hatte viele Ideen. Er wusste immer, was er wollte, hatte keine Angst. Zum Beispiel hat er seinen Arbeitsplatz aufgegeben, um seinen Traum zu erfüllen und einen Blumenhandel zu eröffnen, obwohl ihm jeder davon abgeraten hatte.
41, ist die Nichte des ersten Opfers der Neonazi-Terrorzelle NSU, Enver Simsek, der am 9. September 2000 in Nürnberg an seinem mobilen Blumenstand erschossen wurde. Nach seinem Tod führte die gelernte Floristin mehrere Jahre das Geschäft weiter. Heute engagiert sie sich als Integrationslotsin und sitzt im Vorstand eines islamischen Vereins.
Nach seiner Ermordung haben Sie hier in der hessischen Kleinstadt Schlüchtern das Blumengeschäft Ihres Onkels Enver übernommen.
Ja. Seine Witwe hatte viel gelitten damals. Sie hatte die Liebe ihres Lebens verloren, bekam Depressionen. Sie konnte den Laden nicht weiterführen. Also habe ich ihn zum Andenken an meinen Onkel übernommen, bis wir das Geschäft sechs Jahre später leider schließen mussten.
Können Sie sich noch an den 9. September 2000 erinnern, den Tag, an dem Enver Simsek in Nürnberg an seinem Blumenstand erschossen wurde?
Sehr gut sogar. Es war ein schöner Nachmittag, ein Samstag, eine Freundin von mir feierte Geburtstag. Am Abend hat dann plötzlich meine Tante angerufen und gesagt, mein Onkel sei angeschossen worden. Ich dachte, vielleicht wollte ihm ein Verbrecher sein Geld klauen. Wir haben zwei Tage gewartet, gehofft, gebangt und kein Auge zubekommen. Dann haben die Ärzte im Krankenhaus in Nürnberg die Geräte abgeschaltet.
Bis zu der Aufklärung der Tat sind elf Jahre vergangen. Erst im November 2011 wurde öffentlich bekannt, dass eine Neonazi-Terrorzelle Ihren Onkel und neun weitere Menschen ermordete. Wie ging es Ihnen an diesem Tag?
Fadime Simsek wird am Donnerstag, 1. November, auch zu Gast sein bei der taz-Veranstaltung „Brauner Terror – Ein Jahr Zwickau, Zwanzig Jahre Mölln und Lichtenhagen“ im Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Beginn: 19 Uhr. Eintritt frei.
Am Freitag, 2. November, erscheint die taz mit einem sechseitigem Dossier zur rechtsextremen Terrorzelle NSU und einem beispiellosen Staatsversagen. Mit Analysen, Reportagen und Stimmen der Opferangehörigen. Am Kiosk, eKiosk oder //www.taz.de/zeitung/abo/:im Abo.
Es war für uns eine große Erleichterung. Endlich wussten wir, wer die Täter waren und was der Hintergrund dieser Morde war. Gott hat die Balance wiederhergestellt und für Gerechtigkeit gesorgt. Die beiden Mörder meines Onkels sind tot.
Die Polizei stellte jahrelang falsche Verdächtigungen auf. Erst geriet Enver Simseks Witwe ins Visier, später hieß es: Der Ermordete selbst könnte Drogen von Holland nach Deutschland geschmuggelt haben – dabei hat er dort nur Blumen beim Großhandel gekauft. Wie hat Ihre Familie all das elf Jahre lang ausgehalten?
Wir hatten erst Mal Angst. Wir wussten ja nicht, ob sich vielleicht jemand auch noch an uns rächen will. Deswegen haben wir an unserem Auto auch nicht den Namen Simsek als Werbung für den Blumenladen angebracht.
Und wie gingen Sie mit all den Beschuldigungen um?
Das Schlimme war: Irgendwann habe auch ich angefangen mich zu fragen, ob an den Verdächtigungen der Polizei nicht etwas dran sein könnte. Ich dachte mir: Die sind geschult, klug, geben sich Mühe, die wissen es vielleicht besser. Und hat nicht jeder Mensch seine Schattenseite? Aber in meinem Herzen war mir immer klar, dass mein Onkel nicht so ein Mensch war, wie plötzlich behauptet wurde. Wir hatten ja auch immer wieder vermutet, dass die Täter Rassisten oder Neonazis sein könnten. Mit Gottes Hilfe ist die Wahrheit ans Licht gekommen.
In den Medien wurde die Serie von Morden an einem griechischstämmigen und acht türkischstämmigen Männern „Döner-Morde“ genannt ...
... das fand ich krass. Da wurden Menschen zu einem Klumpen Fleisch reduziert. Aber was hätte man machen sollen? Im Nachhinein denke ich, wir Türken waren zu passiv, wir hätten auf den Tisch hauen müssen. Wir haben still abgewartet, bis die Täter entdeckt werden.
Aber es gab doch Demos, 2006 in Kassel und Dortmund.
Ja, aber das war viel zu wenig.
Sie als Angehörige können doch nicht selber ermitteln!
Nein, aber wir hätten mehr Druck ausüben können auf die Regierung. Es wurden acht Türken ermordet. Wären es Menschen aus anderen Ländern gewesen, den USA, Frankreich oder England, dann wäre im Land doch die Hölle losgewesen. Aber es waren eben nur Türken, deswegen haben die Sicherheitsbehörden nicht richtig gearbeitet und geschlampt. Beim Verfassungsschutz haben sie die drei Affen gespielt: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.
Sie sind sehr kritisch der türkischen Gemeinde gegenüber. Hätte nicht die Mehrheitsgesellschaft wachsamer sein müssen?
Der war das egal, das haben wir ja festgestellt. Die Deutschen haben ihrem Land vertraut, das habe ich ja auch gemacht. Deutschland ist so ein mächtiger Staat. Wenn er sein bestes gegeben hätte, dann hätten nicht so viele Menschen sterben müssen. Man hat uns im Stich gelassen.
Ein Türke ist hierzulande weniger Wert als andere Menschen?
So sieht es aus.
Trotz alldem engagieren Sie sich seit zwei Jahren ehrenamtlich als Integrationslotsin für dieses Land. Warum?
Das hat nichts mit dem Mord an meinem Onkel zu tun. Ich mache das, um Menschen mit Migrationshintergrund zu unterstützen. Ich sage meinen Söhnen immer, dass sie hier nur durch eine gute Ausbildung und durch einen guten Job Anerkennung bekommen. Als Migrant muss man immer noch ein bisschen besser sein als die anderen.
Würden Sie Deutschland als Ihre Heimat bezeichnen oder die Türkei?
Das war einmal. Ich bin in der Türkei geboren, aber in Deutschland aufgewachsen. Seit 2002 habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit. Es gibt eine Redewendung: Die Fremde ist nicht Heimat geworden, aber die Heimat Fremde. Das trifft es ziemlich gut.
Gibt es einen Ort der Erinnerung an Ihren Onkel Enver Simsek?
Hier in Schlüchtern nicht, aber in seinem Heimatort in der Türkei. Dort ist sein Grab. Wenn ich in der Türkei bin, besuche ich es immer. Auch meine Großmütter liegen dort begraben.
Waren Sie vor zwei Monaten, am zwölften Todestag Ihres Onkels, an seinem Grab?
Nein. Aber Envers Sohn hat sich an diesem Tag verlobt. Das ist eine schöne Erinnerung.
Was wünschen Sie sich?
Dass sich so etwas wie diese Mordserie nie mehr wiederholt. Kanzlerin Angela Merkel hat bei der Trauerfeier für die Opfer im Februar zu Recht gesagt: Das ist eine Schande für Deutschland.
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