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Wohnprojekt zur IntegrationStudenten nehmen Flüchtlinge auf

In Lübeck vermittelt eine Initiative Flüchtlinge an Wohngemeinschaften – das soll ihnen beim Start in der neuen Heimat helfen.

Wohnprojekt „Brot & Rosen“ in Hamburg: Hier lebt eine christliche Gruppe mit Flüchtlingen zusammen. Bild: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Die erste Vermittlung ist gerade zustande gekommen: Ein 27-Jähriger aus Afghanistan, seit zehn Monaten in Deutschland, wohnt nun bei drei Lübecker Studierenden. Seit drei Monaten soll das dortige Projekt „WG gesucht“ Flüchtlingen dabei helfen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden. Dahinter steht eine Kooperation zwischen dem Allgemeinen Studierendenausschuss (Asta) der Lübecker Universität und dem örtlichen Flüchtlingsforum.

Arno Gerß ist einer der Bewohner der Pilot-WG. Das Zusammenleben funktioniere mittlerweile wie in jeder anderen Wohngemeinschaft. „Es ist wie mit einem normalen Mitbewohner“, berichtet Gerß. „Die Kommunikation hat anfangs etwas länger gedauert, aber Navid ist sehr bemüht, unsere Sprache zu lernen.“ Einen Flüchtling aufzunehmen und ihn zu integrieren sei eine Bereicherung für die WG.

Die Idee wurzelt im Erasmus-Austauschprogramm, das Studierenden einen Auslandsaufenthalt bis zu einem Jahr gewährt: Während dieser Zeit wohnen sie häufig bei einheimischen Studierenden. „Warum sollte dies nur für Studenten gelten?“, fragte sich Informatik-Student Alexander Bigerl. „Und wieso nur für ein Jahr?“

Bigerl ist Referent für Politik und Soziales beim Asta der Uni Lübeck und hat das neue Projekt initiiert. Auf den Bedarf der Unterbringung von Flüchtlingen war Bigerl aus Medienberichten und durch den Kontakt zu Freunden aufmerksam geworden. Für eine mögliche Zusammenarbeit lag das Lübecker Flüchtlingsforum nahe: Dort melden sich viele der neu ankommenden Flüchtlinge, die auf der Suche nach einer Wohnung sind.

Flüchtlinge im Norden

Niedersachsen nahm 2013 etwa 9,3 Prozent aller Asylsuchenden in Deutschland auf. Die ersten drei Monate verbringen sie in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Braunschweig, Bramsche und Friedland.

Hamburg hatte im ersten Halbjahr 2014 bereits 2.297 Asylbewerber aufgenommen. Bis zum September dieses Jahres wurden für sie rund 2.600 Wohnplätze geschaffen. Bis zum Jahresende sind weitere 690 Plätze geplant.

In Schleswig-Holstein stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zum Vorjahr um 64,8 Prozent. Absolut sind 2013 über 4.000 Anträge eingegangen. Mit einem Anstieg wird gerechnet.

Bremen nahm 2013 etwa 1.000 Menschen aus Krisenregionen auf, darunter 217 unbegleitete Minderjährige. Bis Jahresende rechnet die Stadt mit etwa 2.000 neuen Flüchtlingen.

Aus Sicht von Jihan Mortezai, Migrationsberater der Arbeiterwohlfahrt in Lübeck, muss sich in erster Linie die Stadt um die Integration von Flüchtlingen kümmern. Aber man benötige eben auch Menschen, die sich engagieren und Ideen und Projekte vorantreiben. „WG gesucht“ nennt er eine „unkonventionelle Entscheidung von Studenten, sich für andere Menschen einzusetzen“. Grundlegend sei es, ein Verständnis für Flüchtlinge in Lübeck zu entwickeln.

Kultureller Austausch

Wann immer sich WG-Interessierte beim Flüchtlingsforum melden, tritt dieses an den Asta heran. Der wiederum übernimmt die Vermittlung zu einer geeigneten Wohngemeinschaft. Was nun nicht bedeutet, dass plötzlich jemand von der Studierendenvertretung ohne Vorwarnung mit einem Flüchtling im Schlepptau an der Wohnungstür klopft: Wie in jeder anderen WG gibt es eine Art Casting. Der oder die Neue soll ja auch zur bestehenden Gemeinschaft passen.

Nicht zuletzt sieht Bigerl „WG gesucht“ als Chance, Sprachkenntnisse zu erwerben und sich kulturell auszutauschen. Und natürlich müsse verhindert werden, dass traumatisierte Flüchtlinge einfach so in Wohngemeinschaften vermittelt werden.

„Das Projekt in Lübeck ist völlig auf Höhe dessen, was die bürgerschaftliche Flüchtlingssolidarität an Bedarf einfordert“, sagt Martin Link, Geschäftsführer des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein. Mit der Unterbringung von Flüchtlingen müsse die Integrationsförderung vorangetrieben werden. Das geschehe in Lübeck in vorbildlichem Maße.

In Hamburg zeigt das Wohnprojekt „Brot & Rosen“ schon seit 1996, wie unbürokratisch die Aufnahme Asylsuchender ablaufen kann: In einem ehemaligen Gemeindehaus leben bis zu acht Menschen zusammen. „Wir haben uns dafür entschieden, solidarisch mit Flüchtlingen zu leben“, sagt Dietrich Gerstner, ein Gründungsmitglied des Projektes. Manche Bewohner bleiben einen Tag, manche mehrere Monate oder auch Jahre. Lebensmittel werden durch Spenden finanziert.

In Lübeck übernimmt das Sozialamt die Wohnungskosten. Für die Zukunft hofft „WG gesucht“ auf weitere Anmeldungen – sowohl von Flüchtlingen als auch von WGs.

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3 Kommentare

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  • Es ist selbstverständlich begrüssenswert. Es gab immer irgendwo auch Menschen.

    Doch das es die Benachteiligung von nichtdeutschen Namen nur aufgrund von nichtdeutsch klingenden Namen nicht löst, ist klar: es ist einer von den Einzelfällen, die in einigen wenigen Zeitungen aufgezeigt werden. Erst wenn derartige Meldungen in den Massenblättern erscheinen, kann man von einer Entwicklung sprechen. Ich behaupte einfach, dass gegen Diskriminierung von nichtdeutschen Namen auf dem Wohnungsmarkt viel zu wenig getan wird. Schön wäre es, wenn die Adresse dieser Stundengemeinschaft nicht veröffentlicht wird; diese wäre mit Sicherheit ein Angriffsziel von einigen Hirnlosen.

  • Da möchte man einfach nur alle Daumen drücken, dass das Projekt gelingt.

  • Eine „unkonventionelle Entscheidung von Studenten, sich für andere Menschen einzusetzen“.

    Unkonventionell? Nun, das kann sich noch ändern. Auf jeden Fall richtig, wichtig, allseits gewinnbringend („kultureller Austausch“, oder, um es mit Stevie Wonder zu sagen, „Conversation, Peace“) und relativ machtbürokratieabgekoppelt (also potentiell erfolg-reicher). Was für ein Grundsatzunterschied zu dem Politikerin-Bla-Bla (in einen anderen Artikel heute) von Flüchtlingsheim-TÜV. Bravo und Respekt all den MitmacherInnen!