Ukrainischer Bürgerrechtler in Lwiw: „Kiew hat keinen Einfluss mehr“
Alik Olisewitsch lebt in der Westukraine. Der Oppositionelle über den Alltag in Lwiw, rechte Kräfte, einbehaltene Steuern und warum der Staat nicht geteilt werden sollte.
Herr Olisewitsch, Sie leben in Lwiw, wie ist die Lage in der Stadt?
Alik Olisewitsch: Es ist ruhig und die Geschäfte sind offen. Aber die Polizei ist komplett abgetaucht. Selbst die Notrufnummer funktioniert nicht mehr.
Und wer kontrolliert jetzt die öffentliche Ordnung?
In Lwiw gibt es sechs Stadtbezirke und in jedem Bezirk ein Verwaltungsgebäude. Diese Gebäude sind inzwischen alle von Oppositionellen besetzt und dort haben sich die Bürgerwehren gebildet. Sie patrouillieren mit Autos, mit Fahrrädern und zu Fuß. Sie sollen verhindern, dass Marodeure die Straßen unsicher machen.
Sind sie bewaffnet?
Sie haben Knüppel, Reizgas, vielleicht auch Handschellen, aber keine Feuerwaffen.
Gibt es Marodeure?
Es gibt die sogenannten Tituschki, vom Regime gedungene junge Leute, die äußerst gewaltbereit sind. Solche Tituschki wurden aus der Ostukraine nach Lwiw geschickt. Es sind eigentlich Studenten der Universität des Innenministeriums aus Charkiw. Ihr Auftrag ist, die Lage in der Stadt zu destabilisieren.
,geboren 1958 in Lviv, ist Bürgerrechtler, engagiert sich bei Amnesty International und ist einer der bekanntesten Vertreter der sowjetischen Hippiekultur in der Breschnew-Ära. Er arbeitet als Techniker im Opernhaus von Lviv.
Ist es dazu gekommen?
Am Dienstag zogen hunderte Jugendliche vor einen Supermarkt, dessen Besitzer der Janukowitsch-Partei angehört. Sie wollten ihn anzünden. Da haben sich Leute von der Bürgerwehr dazwischengestellt. Die Anstifter dieser jungen Leute haben bestes Russisch gesprochen. Die waren nicht von hier. Das waren Provokateure. Sie sollten einen Anlass zum Eingreifen liefern.
Funktionieren die staatlichen Strukturen überhaupt noch?
Da funktioniert gar nichts mehr. Die Stadtbezirksverwaltungen sind alle besetzt. Die Gebietsverwaltung ist besetzt, die Staatsanwaltschaft ist verwüstet, die Vertretung des Innenministeriums auch. In der Hauptverwaltung der Polizei hat es gebrannt und der Gouverneur, ein von Janukowitsch eingesetzter Mann ist abgetaucht. Kiew hat keinen Einfluss mehr auf die Westukraine.
Bilder zur aktuellen Lage in Kiew in unserer Bildergalerie.
Ist etwas an die Stelle der alten Strukturen getreten?
Zum einen funktioniert noch die Stadtverwaltung. Der Bürgermeister ist ein guter Mann. Und seit etwa drei Wochen gibt es die Narodnaja Rada, die Volksversammlung. Das ist ein Gremium, in dem Vertreter von Parteien, Organisationen und Gruppierungen entsandt wurden.
Wie arbeitet die Versammlung?
Das ist eine Art runder Tisch, der berät und Entscheidungen trifft, und das alles transparent macht. Die Volksversammlung kooperiert auch mit dem Parlament der Gebietsverwaltung, das es auch noch gibt und das akzeptiert ist, denn deren Vertreter sind frei gewählt.
Haben sie schon Beschlüsse gefasst?
Sie haben beschlossen, dass keine Steuern mehr nach Kiew fließen. Die Steuern, die im Gebiet Lwiw aufgebracht werden, hier leben etwa 3 Millionen Menschen, bleiben hier im Gebiet.
Wie verhalten sich die rechten Kräfte, die es in der Stadt gibt?
Beim Sturm auf die Gebietsverwaltung hat sich die Partei Swoboda hervorgetan. Einfache, normale Leute, keine Rechten, haben das Gebäude gestürmt. Angeführt wurden sie aber von Radikalen von Swoboda. Und daneben gab es noch autonome rechte Gruppen, Jugendliche, Studenten, die regelrechte Sturmgruppen bilden. Ich würde sie als unorthodoxe Rechte bezeichnen, während die Leute von „Swoboda“ eher orthodoxe Rechte sind.
Sie kooperieren untereinander?
Nein, sie streiten sich. Als die Gebietsverwaltung dann erstürmt war, besetzte Swoboda drei Etagen, und die jungen Rechten eine weitere. Und dann haben sie handfesten Streit gehabt. Und die einfachen Leute, die das mitbekommen haben, sagten: was seid ihr denn für Patrioten?
Beobachten Sie eine Radikalisierung?
Von Lwiw sind seit Ende November ganz viele Unterstützer zum Maidan gefahren. Manche waren nur einige Tage dort, andere länger – je nachdem, wie viel Zeit sie hatten. Und sie kamen alle begeistert zurück und haben von der Stimmung und dem Menschen geschwärmt. Das ist vorbei. Wer jetzt fährt, nimmt Waffen mit.
Und in Lwiw?
Anfang der Woche sind 130 Polizisten der Berkut-Sondereinheiten von hier nach Kiew ausgerückt. Am Mittwochabend gab es auf die Kaserne einen Sprengstoffanschlag, bei dem zwei Polizisten starben. Waren es Provokateure? Waren es Oppositionelle? Keiner weiß es.
Jetzt wird bereits von der Teilung der Ukraine geredet. Wäre das eine Lösung?
Das ist eine riesige Gefahr. Die Ukraine muss ein einiger Staat bleiben. Eine Aufteilung der Ukraine wollen nur radikale Nationalisten, dazu kommen Politiker und Abgeordnete aus den Gebieten Charkiv, Donezk, Luhansk im Osten des Landes und Separatisten von der Krim.
Die Gewalt spielt ihnen in die Hände?
Natürlich, denen kommt das zupass, nach dem Motto: Wenn ihr das im Kiew nicht in den Griff bekommt, dann machen wir unser eigenen Staat und Charkow wird wieder die ukrainische Hauptstadt, wie sie es in den zwanziger Jahren war. Diese Funktionäre wollen einfach nicht, dass es im Osten so liberal zugeht wie in Lwiw. Sie wollen das so wie in Russland haben und verstehen nicht, dass die Menschen darauf keine Lust haben. Wir wollen nicht in einem großen Gulag leben.
Was halten Sie von der berichteten Einigung, die in Kiew erzielt worden sein soll?
Das alles ist im Prinzip nicht schlecht. Aber lassen sich die unterschiedlichen Gruppen auf dem Maidan, insbesondere die Rechten, darauf ein? Es steht 50 zu 50.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter