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Archiv-Artikel

zwischen den rillen Von Bristol nach Los Angeles: Tricky sucht die Sonne

Karma Chamäleon

Wenn man die Digitalkamera laufen lässt, während man Auto fährt, entstehen solche verwackelten Bilder: Graffiti ziehen vorbei, Häuser, Palmen, Ampeln, Bar-B-Qs, Diners und noch mehr Palmen. Bilder von Los Angeles. Man könnte meinen, der Film sei eine Liebeserklärung an die Straßen dieser Riesenstadt. Film? Trickys neues Album „Vulnerable“ wird zusammen mit einer DVD verkauft, die unter anderem den Kurzfilm „Vulnerable“ enthält, der vor allem eins sagt: Los Angeles, das ist meine neue Heimat. Hier leben megareiche Hollywood-Filmstars und ultraarme Skid-Row-Penner, und zwischen ihnen liegt oft nur ein Freeway.

Trickys inzwischen siebentes Album in knapp zehn Jahren bringt dreizehn neue Songs, darunter mit „Dear God“ und „Love Cats“ von The Cure zwei sehr eigenwillige Coverversionen, die beim ersten Hören entrückt klingen, anachronistisch, hektisch, nervös, sperrig. Wie so oft entpuppen sich Platten, die sich nicht anbiedern, im Laufe der Zeit als unentbehrlich. Denn abgesehen davon, dass sich nach und nach die teilweise wahnsinnig guten Basslines, die „Vulnerable“ zu bieten hat, festsetzen, nähert man sich der Platte am besten so: Man darf sich von der Nervosität nicht anstecken lassen.

Spätestens dann rücken die entspannten Dub-Reggae-Grooves in den Vordergrund, die diese Platte auch zu bieten hat: Etwa in dem Eröffnungssong „Stay“, die heruntergefahrenen Streicherarrangements, die einfachen Melodien und schließlich, ganz wichtig: die Hauchstimme von Costanza Francavilla. Faktisch singt sie alle Tracks auf Trickys neuem Album. Tricky selbst spricht meist nur die Bassstimme unter Francavillas Gesang, oder er redet mit ihr im Duett. Der Effekt ist hypnotisch. Sollte man „Vulnerable“ nicht lieber gleich eine Kifferplatte nennen?

Wenn „Vulnerable“ aber eine Kifferplatte ist, sei jedoch gewarnt: Absacker und Aufwecker wechseln sich auf ihr ab. Ausgerechnet „Car Crash“ nennt sich eine der traurig-schönsten Balladen, die Tricky je geschrieben hat. Es finden sich noch einige weitere Balladen auf „Vulnerable“, wie eine Belohnung für denjenigen, der durchhält, und sich nicht von den paranoiden Metal-Gitarren in mehreren Tracks hat verschrecken lassen: Exponiert instrumentiert, mit Frauenchor, Beatbox, synthetischen Streichern und komplexen Soundflächen unterlegt, steht das schaurig-schöne „Hollow“ als Ruhepol im Zentrum von „Vulnerable“. Francavilla singt: „Let me die when I lie to you first“. Tricky antwortet: „I follow“. Dichter geht auch Haschlyrik nicht zu komprimieren.

Per Pressemitteilung ließ Tricky verlauten, dass eine Reihe von Veränderungen in seinem Leben ihn zu einem positiveren Blick auf die Welt geführt hätten. Zum einen verwaltet nicht mehr eine gesichtslose Schallplattenindustrie seine Copyrights, sondern das relativ kleine, einstige Punklabel Epitaph, deren Mitarbeitern Tricky namentlich im Booklet dankt. Zum anderen habe er zwischenzeitlich herausgefunden, dass seine für unheilbar gehaltenen Depressionen von einer seltenen Krankheit herrühren sollen und mit viel Sonne behandelt werden könnten. Mit Los Angeles bekam also „Vulnerable“ ein grundsätzlich positives Karma mit auf den Weg. Wie in dieser von Tricky mühsam zusammengeschobenen Energie, die in den Bässen, in den heiser geflüsterten Endlos-Sprechgesängen als Gegenpol zu Francavillas ätherischen Gesängen, in den hart geschnittenen Arrangements zu hören ist. Ungemein ungefiltert sind die Sounds, die Tricky übereinander geschichtet und zu Environments aufgetürmt hat, die dem Müll, der Stadt und dem Tod die Stirn zu bieten versuchen.

So ist „Vulnerable“ kein einfaches Album, kein leicht zu hörendes Album, das Gegenteil von Lounge-Musik. Aber ein Album, das diese düsteren Zeiten überleben wird. Denn eines ist auch klar: Gemessen wird Tricky bis in alle Ewigkeit an seinem historischen Debütalbum „Maxinquaye“, dessen Geschlossenheit „Vulnerable“ trotz herausragender Songs zu keinem Zeitpunkt erreicht. Das kann auch ein Fluch für einen Musiker sein, ein solches Signaturalbum einmal hinbekommen zu haben, und in der Regel vermeiden sie es, sich radikal an dessen Exorzismus zu versuchen. Tricky muss man attestieren, dass er es versucht hat.

MAX DAX

Tricky: „Vulnerable“ (Epitaph)