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Archiv-Artikel

zwischen den rillen Vorsprung durch Pedaltechnik: Kraftwerk

Im Rausch der Geschwindigkeit

Die Wahrheit liegt auf der Straße, in den Alpen und den Pyrenäen. Beim Anstieg nach Luz-Ardiden hat Lance Armstrong die Tour auf sechs von dreieinhalbtausend Kilometern gewonnen, und Ulrich hat sie beim Zeitfahren nach Nantes in einer einzigen regenglatten Kurve verloren. Kaum vorstellbar, dass der Sieger insgesamt gerade mal zehn Zentimeter pro Tourkilometer an Vorsprung herausgefahren hat. Doch der Abstand summiert sich mit der Zeit: Tritt für Tritt, 83 Stunden, 41 Minuten und zwölf Sekunden. Oder eben eine Minute mehr, wie bei Ulrich – das wären gut 500 Meter Rückstand gewesen.

Wenn eine Band wie Kraftwerk nach 15 Jahren Veröffentlichungspause ausgerechnet der „Tour de France“ eine CD widmet, dann kann man sich gut vorstellen, dass auch bei diesem Konzept technische Präzision, strategisches Denken und die Lust an hybriden Körperfantasien ineinander greifen. Oder hat sich in der elektronischen Herrenrunde etwa die ökologische Erneuerung durchgesetzt? Von Autobahn und TransEuropaExpress bis ins Internet – und nun hinaus an die frische Luft, zurück zur Natur?

Nein, nicht wirklich. Eher schon macht sich Armstrong als muskelbepackter Sportsheld im gelben Trikot mit seinem ledernen Gesicht und dem Cyborg-Lächeln gut in der Ahnenreihe aus Schaufensterpuppen und Robotern. Selbst Ulrich wäre eine prima Identifikationsfigur, rein romantisch betrachtet: immer ein wenig verträumt und leicht in Gedanken wegdriftend, dazu der mechanische Fahrstil, ist auch er – als Rad fahrendes Mantra aus Pedalsirren und Ritzelklirren – eine Art Homunkulus. Insofern sind Kraftwerk selbst auf der Tour de France in guter Gesellschaft. Darüber hinaus gesellt sich zur Wahrheit der Tour ein ästhetisches Empfinden: die Schönheit der Landschaft, die silbrigen Bergkuppen, das endlose Band des Verfolgerfeldes mitten in den südfranzösischen Wiesen. Kein Künstler hätte die Idylle einer gebändigten Natur vollkommener malen können, als es Kraftwerk bereits vor 20 Jahren im Videoclip ihrer ersten „Tour de France“-Hymne vorgeführt haben.

Heute klingt die kühle Melancholie der Arrangements noch weitflächiger, sind die knurrend über Vocoder eingestreuten Zweiworttexte wie schmückendes Ornament geformt, konsequent in der Reduktion zwischen konkreter Dichtung und Sachlexikon zur Biochemie. Sprachlich entschlackt reimt sich „Carbone Aluminium“ auf „Cadre Titanium“, minutenlang geht das fort, immer auf Augenhöhe zum Minimalismus. Am Signatursound flimmernder Stringensembles und verschrobener Sequenzerschichten hat sich wenig geändert: Selbst Kraftwerk gestalten stumpfe Quint- und Terzprogrammierungen mit der ihnen eigenen Düsseldorfer Klarheit, die nichts von den Zufälligkeiten des Clicks-’n’-Cuts-Gebastels hat.

Der eigentliche Rausch aber liegt in der Geschwindigkeit. Was der radelnde Mensch aus der Maschine holt, exerzieren die vier Musiker an den Apparaturen vor: Ihre „Tour de France Soundtracks“ dauern etwa 56 Minuten, bei bis zu 170 Beats per Minute. Hätte Armstrong mit diesem Tempo in die Pedale getreten, wäre er schon beim Prolog tot vom Rad gefallen. Wenn Kraftwerk, die angeblich selbst diverse Etappen der Tour in ihrer Freizeit nachgefahren sind, die neue CD als Hohelied auf den Radsport und seine Realitäten verstanden wissen wollen, dann liegt in dieser Feier der totalen Abfahrt einige Ironie.

Tatsächlich geht es Kraftwerk nicht um verschwendete Jugend, sondern um die List der Vernunft. Im Booklet ist ein EKG abgebildet mit einem Puls zwischen 160 und 170 Schlägen als Richtmaß der sportlichen Höchstleistung. Wer darunter bleibt, fährt weit abgeschlagen hinten mit, darüber wird es lebensbedrohlich. Die Anstrengung bis zur physischen Erschöpfung gilt wiederum auf dem Fahrrad genau wie auf der Tanzfläche – ein Kommentar auf den Techno vergangener Jahre, als Mahnung zur Mäßigung für die letzten Raver?

Immerhin haben sich Kraftwerk dezent im Hintergrund gehalten, während in den vergangenen Jahren die Beats per Minute von Love Parade zu Love Parade schneller, weiter, höher geschraubt wurden, bis niemand noch gerne tanzen ging. Nicht von ungefähr klingt Ralf Hütters Bemerkung im Spiegel-Interview hämisch, wenn er sagt: „Vergessen Sie nicht: Wir sind jetzt seit 33 Jahren dabei.“ Nur die Rolling Stones haben als Band so viel Selbstbehauptungsroutine – und verfügen über die dazugehörigen, alle Zeitläufte überdauernden Sounds, Formate und Images. Eine Irritation allerdings bleibt: Mit den Akkorden von „Tour de France“ lässt sich ebenso gut Nirvanas „Smells like teen spirit“ nachspielen. Das gibt zu denken. HARALD FRICKE

Kraftwerk: „Tour de France Soundtracks“ (EMI)