piwik no script img

zwischen den rillenDer Vater des Weightless-Sounds

Mr. Mitch: „Devout“ (Planet Mu/Rough Trade)

Kaum feiert Grime, diese Hochenergieform von britischem HipHop, seine größten Erfolge, melden sich die Kritiker zu Wort. Zu formelhaft sei das, was mittlerweile als Grime gehandelt wird; Wahnsinn und Experimentierfreude der Frühzeit seien verloren gegangen. Klar, seinen „Wie nennt man das?“-Moment hat das Genre längst hinter sich gelassen. Das trifft vor allem auf die Grime-Stars Stormzy oder Skepta zu. Sie rappen im 8-Takte-Rhythmus zu Beats, deren Geschmacksmuster vor anderthalb Jahrzehnten auf billigen PCs mit gecrackter Software programmiert wurden und die heute im teuren Tonstudio in erster Linie veredelt werden.

In den etwas weniger beachteten Nischen ist Grime jedoch weiterhin ein hybrider Stilmutant. Immer dabei: Miles Mitchell aus Südlondon, alias Mr. Mitch. Anfang des Jahrzehnts hat er als Produzent von Grime-Instrumentals erstmals auf sich aufmerksam gemacht, mit seiner seit vier Jahren laufenden Clubnacht „Boxed“ und einer gleichnamigen Sendung beim Londoner Bassmusik-Radiosender Rinse FM hat er Grime seitdem mit einem neuem Sub­genre bereichert: „Weightless“.

Mr. Mitch und seine Mitstreiter Slackk, Logos und Mumdance skelettieren die hektischen Beats von Grime auf ihre Ins­tru­mentalspuren, um diese weiterzuverarbeiten: zu minimalistischen Dancetracks als Hintergrund für Reimkaskaden oder zu klaustrophobischen Instrumentalstücken, die den Soundtrack zum Alltag in London bilden: den Soundtrack zur Erschöpfung im Pendlerzug und zu den leerstehenden Luxus­apartments und Bürogebäuden, den Gespenstern des Baubooms aus der Zeit vor der Finanzkrise.

Mr. Mitchs Debütalbum „Void“ trieb 2014 die Klaustrophobie des Weightless-Sounds auf die Spitze. In Hall getränkte, gegeneinander gestimmte Synthesizer im Emo-Modus treffen auf Rhythmussprengsel und verlieren sich wieder in der Leere. Auf seinem neuen Album „Devout“ präsentiert er sich dagegen in einer neuen Rolle. Anstatt ein abstraktes Unwohlsein zu artikulieren, mutiert Mr. Mitch zum soulgeschwängerten Liebhaber und Familienvater. Gleich im Intro haben seine beiden Söhne einen Kurzauftritt. „I hate this song, I love this song“, sagt sein ältester Sohn, während ihn der jüngste mit seinem ersten selbstgesprochenen Wort begrüßt: „Father“.

In einer Szene, in der subkulturelles Kapital immer noch nach der aggressiven Rap-Performance bei Liveauftritten verteilt wird, zieht sich Mr. Mitch ins Kellerstudio an seinen Laptop zurück und singt von seinen Kindern. Das ist kein Rückzug ins Private, sondern eine bewusste Dekonstruktion von Grime-Maskulinitäten. Als sich 2013 verschiedene MCs auf der Streamingplattform Sound­cloud mit ihren „War Dubs“ battelten, veröffentlichte er seine eigenen „Peace Edits“ davon: schlierige Instrumentals mit Pianosprengseln und verfremdeten Stimmen.

Auch auf „Devout“ übt sich Mr. Mitch in der Renaissance des „Neuen Manns“ in Grime-Gestalt, greift dabei jedoch auf Vorbilder aus der afrobritischen Musikgeschichte zurück, die er in seine entrückte, bisweilen etwas zuckrige Synthesizerwelt überträgt. Die Sängerin Py singt auf „Pleasure“ im hypersouligen Sample-Staccato von UK-Garage, „VPN“ dagegen überrascht mit einem Dancehall-Rhythmus und flehendem Reggae-Chanting. Sänger Palmistry besingt die Notwendigkeit von WiFi in einer Fernbeziehung und aktualisiert so das britischste aller Reggae-Genres, den soul­geschwängerten Lovers Rock der frühen 80er, als auch Mr. Mitchs Vater als Sänger aktiv war.

„Devout“ verströmt ein doppeltes Selbstbewusstsein: das eines Familienvaters und das eines Produzenten, der sich von den Rändern anschickt, einer ganzen Szene ihren Machismo auszureden, und dessen bestes Argument dafür seine einzigartigen, schwerelosen Beats sind.

Christian Werthschulte

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen