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wortwechselEin Stadtbild zeigt nur die Menschen, die dort leben

In der „Debatte über das Stadtbild“ werden reale Veränderungen durch Migration und politische Einsparungen zu einem stigmatisierenden Mix verquirlt, der Städte spaltet

Protestveranstaltung für Vielfalt und gegen Rassismus am 19. Oktober in Berlin: „Brandmauer hoch! Wir sind das Stadtbild!“ Foto: Christian Mang

Forderung nach einer solidarischen Stadt. Wer über das Stadtbild spreche, müsse auch Armut erwähnen, sagen SPDler“, taz vom 27. 10. 25

Provokation mit System

„Wie das ZDF berichtete, stimmen 60 Prozent der deutschen Bundesbürger den provokativen Aussagen von Merz zum Stadtbild zu“, das schrieb auch die taz.

Das stimmt aber nicht – auch, wenn so gut wie alle Medien inklusive ZDF, das verbreitet haben.

60 Prozent stimmen der (erst nach einer Woche!) präzisierten Aussage von Merz zu, dass es Probleme gebe mit Leuten, die sich nicht an die Regeln halten, ohne Aufenthaltstitel, ohne Arbeit. Das ist eine komplett andere Aussage als Merz’ursprüngliches Geraune, nach dem das Stadtbild mittels Abschiebungen zu bereinigen sei! Letzteres fasse auch ich unter Volksverhetzung und bin fassungslos, wie Merz’ Rassismus (und nach seinem Töchter-Ausflug: Misogynie) mithilfe von Journalisten unter den Teppich gekehrt wird. Anke Schulz

„Tagsüber bin ich Lehrer, abends bin ich ein Problem im Stadtbild.“

Diese Aussage eines dunkelhäutigen, aus Syrien geflüchteten Migranten beschreibt treffend das von Bundeskanzler Friedrich Merz ausgelöste und deutschlandweit diskutierte Thema „Stadtbild“. Unverzeihlich ist, dass er am selben Tag noch nachlegte mit dem Satz:

„Fragt mal eure Töchter!“

Gerhard Ostertag, Bissingen-Teck

„ Armut macht müde“

Sie sagen: Armut macht krank. Ich sage: Armut macht müde. Müde nicht von der Nacht, müde vom System, das dich tagsüber verbraucht und nachts nicht schlafen lässt. Sie sagen: „Kümmert euch um eure mentale Gesundheit!“

Und ich denk mir: Mit welchem Stundenkonto? Mit welcher Kraft? Zwischen 40-Stunden-Schichten, Sorgearbeit im Dreivierteltakt; versuchen, beim Amt nicht zu kollabieren – da passt kein Achtsamkeitskurs mehr rein. Was fehlt, ist kein Yoga. Was fehlt, ist ein verdammtes Sicherheitsnetz! Ein Netz, das auffängt. Eins, das nicht fragt, wie du heißt, sondern wie es dir geht. Wer jeden Cent zweimal umdreht, wird irgendwann selbst verdreht. Und dann … kommen sie mit Ratschlägen: Fenster aufmachen, Atemtechniken, Dankbarkeits-Tagebuch! Aber keiner zahlt die Miete mit positiven Affirmationsscheinchen. Burn-out, aber ohne Diagnose. Therapieplatz? In zwei Jahren. Vielleicht. Und während der Mittelstand sich in Resilienz coachen lässt, übt die Unterkante der Gesellschaft das Überleben – so ganz ohne Applaus. Hört auf, uns zu therapieren. Fangt an, uns zuzuhören. Karina Schaper

Jede Frau ist eine Tochter

Was hängen bleibt“, taz vom 27. 10. 25

Hamburg, Bremen, Hannover, Frankfurt. Die Hauptbahnhöfe mit ihrem Umfeld sind hoch kriminell. Da hat Merz völlig recht – obwohl ich weder CDU noch rechts wähle. Name ist der Redaktion bekannt

Man könnte auch fragen, ob sich die Töchter in CDU-nahen Haushalten zu Hause wirklich sicher fühlen. Das wäre genauso infam. Jochen Orth, Mannheim

Wir hatten in den 1980er Jahren ein Sparschwein: die Chauvi-Kasse. Bei jedem Chauvi-Spruch mussten 5 DM eingezahlt werden. Vorschlag für Herrn Merz: Jedes Mal 10 Prozent Abzug von seinem Gehalt als Kanzler. Eingezahlt zur Finanzierung von Frauenhäusern. Geelke Braun, Walluf

Wer über die Sicherheit von Töchtern reden will, muss über die Söhne sprechen, nicht über Ausländer.

Name ist der Redaktion bekannt

Stammtischparolen sind verallgemeinernd, kompromisslos, pauschal, diskriminierend, herabsetzend, „schwarz-weiß“, zu simpel. Und sie werden der Komplexität gesellschaftlicher Themen nicht gerecht. Aber je­de:r verwendet sie – die einen mehr, die anderen weniger. Wenn sich aber das politische Oberhaupt des Landes ausdrückt wie jemand nach dem zweiten Bier in vertrauter Runde, dann hat das Land ein Problem. Ein gewaltiges. Immer wenn die Quintessenz eines Inhalts mit „Du weißt schon, was ich meine“ umschrieben wird, wird es gefährlich. Wie kann es sein, dass sich mancher Zehntklässler klarer und stimmiger ausdrücken kann als der Bundeskanzler?

Deutsche mit ausländischen Wurzeln, deren Heimat Deutschland ist, fühlen sich von dieser Rhetorik direkt angesprochen – so wie ich selbst. Wenn ich in Harburg einkaufen gehe und von vielen Menschen umgeben bin, die mich nicht verstehen, obwohl sie schon länger in diesem Land leben, die den öffentlichen Raum dominieren, sich laut und teils aggressiv artikulieren – in Sprachen, die ich nicht verstehe –, dann ist etwas schief gelaufen in der Integration. Auf der Selbstoffenbarungsebene gibt der Bundeskanzler aller (!) Deutschen ein ziemlich schwaches Bild ab. Die typischen AfD-Wähler:innen zurückzugewinnen, sollte niveauvoller geschehen – mit Taten. Dieses negative „Stadtbild“ ist vor allem ein Spiegelbild der Politik. Es ist einfach, in Parolen zu sprechen. Unser oben genannter Freund vom Stammtisch wäre stolz auf den Kanzler. Ich bin es nicht.

Saad Fidaoui, Buchholz

Wenn Menschen mit Migrationshintergrund in großer Anzahl und vielerorts kein Deutsch sprechen, weil sie es entweder nicht können oder nicht wollen, dann darf man die Frage stellen, ob das richtig ist. Es ist unangenehm, wenn man sein Gegenüber nicht versteht.

Rolf Dombrowsky, Dortmund

Unsere Stadt wird von Spahn in der Zeit vorgeführt, da sich das Stadtbild durch „irreguläre Migration“ verändert habe. MigrantInnen werden stigmatisiert – und nicht geehrt, weil bei uns Bürgerinnen und Bürger aus 163 Nationen plus Deutschland, also 164 Nationen zusammenleben!

Margarete W., Duisburg-Marxloh

Bitte schneiden Sie folgenden Satz aus: „Bin ich ein Problem für das Stadtbild?“ Schicken Sie dieses Kärtchen mit Ja- oder Nein-Kreuzchen und Foto an Friedrich Merz. Britta Uhlhorn, Cuxhaven

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