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wortwechselStreit um Definitionen – nicht für die Menschen

Gaza stirbt stündlich vor unseren Augen. Waffenlieferungen an Israel werden aber nicht eingestellt. Findet eine politisch und medial orchestrierte Brutalisierung in Zeitlupe statt?

3. August 25: Chan Yunis, Südgaza, Schutzraum für die Vertriebenen in einer UNRWA-Schule – nach israelischer Bombardierung in der Nacht Foto: Hatem Khaled/reuters

Ist das ein Genozid? Begeht Israel in Gaza einen Völkermord? Gerichte prüfen das – und Ju­ris­t:in­nen und His­to­ri­ke­r:in­nen streiten“, wochentaz vom 2. 8. 25

Diskussion im taz Forum

Danke für einen ruhig verschiedene Einschätzungen zusammenstellenden Artikel. Theoretisch hilft das zum Senken des Aufregungspulses schon mal.

Was können wir jetzt schnell und effektiv sofort tun, nicht nur als typisch europäische Symbolpolitik? Wir werden um schnelle Wirtschaftssanktionen nicht herumkommen.

Wollte Israel einen Genozid, würde es die Palästinenser nicht vor Angriffen warnen. Und es gäbe längst keine Palästinenser mehr in Gaza. Genozid ist die Absicht, ein Volk und seine Kultur zu eliminieren. Hat Israel der Hamas im letzten Herbst nicht fünf Millionen Dollar für jede freigelassen Geisel geboten? Wären knapp 500 Millionen Dollar geworden. Bei einem Weltmarktweizenpreis von 228 Dollar für eine Tonne Weizen etwa 2.200.000 Tonnen Weizen. Rund eine Tonne Weizen pro Palästinenser:in.

Nichts rechtfertigt das Wegsehen bei Kriegsverbrechen der IDF, das Relativieren der Vertreibungsphantasien, die zynische Verklärung der humanitären Lage in Gaza. Es hat nichts mit Antisemitismus zu tun, wenn man das Leid und Unrecht auf beiden Seiten wahrnimmt und die Schuldigen dafür klar benennt.

Schnell und effektiv könnte man Israel vermitteln, dass eine Politik der Vertreibung der Bevölkerung aus Gaza und dem Westjordanland von Deutschland nicht hingenommen wird ohne Aufkündigung der militärischen Solidarität.

Wir sollten das Urteil des IGH abwarten. Wenn dieser in einigen Jahren feststellt, dass es ein Genozid war, können wir dann ein Mahnmal bauen und in Museen Schulklassen über die Verbrechen aufklären. Darin liegt schließlich unsere Stärke.

Gehören wir nicht alle längst auf die Straßen, um unseren Unmut gegen jegliche militärische Gewalt kundzutun?! Wir lassen es zu, uns abstumpfen zu lassen, Töten als selbstverständlich zu begreifen.

Ja,, noch länger darüber diskutieren, ob es ein Genozid ist! Noch länger warten mit einer Verurteilung und einem Einschreiten. Noch länger so weiter machen – bis alle Palästinenser weg sind. Dann hat sich das Problem auch erübrigt …

So viel gewissenhafte Diskussion, die alle möglichen Details zur Einordnung eines Genozids so komplex erörtert, obwohl die Täter ganz klipp und klar und mehrfach ihre Absicht, das palästinensische Volk in allen seinen Existenzebenen zu zerstören, kundgetan haben. Diese Diskussion hätte ich mir auch bezüglich Armenien und den Jesiden gewünscht.

Beim Genozid an den Armeniern wurden je nach Quellenlage allein in den Jahren 1915 und 1916 etwa 50–60 Prozent der Zivilbevölkerung ermordet. In Gaza sind bisher in 19 Monaten Krieg schätzungsweise 2 Prozent der Zivilbevölkerung gestorben. Das sind komplett andere Dimensionen. Es geht mir hier nicht um Rechtfertigung, es gibt keine Rechtfertigung, aber es ist kein Genozid. Ein Genozid ist die systematische Ermordung, nicht das billigende Inkaufnehmen von zivilen Opfern.

Wichtiger als die Frage der Bezeichnung ist, dass man dem Einhalt gebietet, was im Gazastreifen geschieht! Ob man es Genozid nennt oder nicht.

Es ist so absurd, dass das gesamte Leid, die Zerstörung, Tote und konkrete Handlungen irrelevant sind, solange die Intention nicht nachgewiesen werden kann. Es ist, als könnte man mit einer Atombombe alle Menschen einer Gruppe auslöschen, aber solange man sagt, dass das nicht die Intention war, ist es kein Genozid, während das Töten von „nur“ 20 Prozent der Bevölkerung einen Genozid darstellt, wenn man dumm genug ist, es zuzugeben.Warum streiten wir seit Monaten und Jahren über Begriffe statt über Strategien, um den Krieg zu beenden?

Wer sich fragt, warum in anderen Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Kanada auf einmal eine derartige Dynamik in Bezug auf Pro Palästina herrscht, findet die Antwort darin, dass in diesen Ländern mittlerweile die richtigen Debatten geführt werden, und zwar über die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft. Diese ist nämlich ebenfalls im Völkerrecht verankert.

Was sagt ein Foto?

Krieg und Fotos: Wie sieht Hunger aus?“, wochentaz vom 2. 8. 25

Der Vorwurf, kranke Kinder würden instrumentalisiert, lässt sich umdrehen: Ihre Erkrankungen werden instrumentalisiert, um den Hunger in Gaza kleinzureden.

Der Vorwurf, die Aufnahme sei „irreführend“, weil die Vorerkrankung nicht genannt wurde, greift nicht, denn die Erkrankung an sich erklärt keinesfalls den schrecklichen Zustand des Kindes. Hungersnöte treffen eben zunächst die Menschen, die am anfälligsten für Unterernährung sind, zum Beispiel kranke Kinder. Ihr Zustand ist real und keine Übertreibung oder „intransparente Darstellung“. Name ist der Redaktion bekannt

Ist das Leid eines schon vorher erkrankten Menschen weniger wert? Ich bin ehrlich gesagt erschüttert.

Für mich ist das zynische Menschenverachtung. Und Sie untermauern das mit solchen Artikeln? Ach nein – Sie differenzieren ja nur.

Thorsten Mitsch, Mannheim

Wie sprechen wir?

Sprache im Gazakrieg: Das Lexikon der Brutalität“, taz vom 4. 8. 25

Guter Artikel. Warum nennt ihr dann den Genozid in Gaza immer noch „Nahost-Konflikt“? Mehr Verharmlosung geht ja eigentlich nicht, oder? Hanna Rosenbrück

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