wortwechsel: Wenn Darwin durchregiert: „Mammon first!“
Obdachlose Menschen liegen auf der Straße – in New York, Washington, Berlin, Nürnberg. Es werden immer mehr. Unsere Metropolen sind krank. Hat „Housing First“ also versagt?
„Eine moralische Verletzung. Housing first hat den Umgang mit Obdachlosigkeit revolutioniert. Doch das Konzept gilt ausgerechnet in seiner Heimat New York City als gescheitert“, wochentaz vom 4. 1. 25
Kaum psychische Hilfe
Wirklich populär im Diskurs scheint es mir zu sein, Obdachlosigkeit als individuelle Schuld auf die Menschen selbst zu schieben. Psychische Probleme sind sehr oft Teil der Situation der Menschen. Die individuelle Versorgung dieses Teils des Problems bleibt weitgehend auf der Strecke. Das ist ein Fehler unseres Gesundheitssystems. Niemand ist bereit, in die Arbeit von Menschen zu investieren, die hier helfen können. Auch Menschen mit Wohnung und sogar Arbeit finden selten sofortige Hilfe auf kleinem Niveau. Monatelange Wartezeiten sind die Regel und gelten als normal. Wir greifen meist erst ein, wenn Menschen total ausrasten und in Kliniken müssen.Friderieke Graebert
Bestrafung First!
Für die Leute, die eine Bestrafung für Obdachlose auf öffentlichen Plätzen einführen wollen, heißt die Problemlösung: Die Leute sind weg, entweder nicht mehr da, weil im Knast, oder nicht mehr da, weil sie in Gemeinden ausweichen, die (noch) nicht strafen. Oder weil sie sterben – verhungern, erfrieren, an schlechtem Essen sterben, an Überhitzung, dem letzten Schuss. Oder einfach überfahren werden. Das ist ihnen egal, nur in ihrem Lebensumfeld wollen sie davon nicht durch den bloßen Anblick belästigt werden. Diesen Anblick empfinden sie als ebenso empörend wie den ihres eigenen Mülls, wenn der eine Woche lang nicht abgeholt wird. Das passiert nur unter zwei Bedingungen: absolute Sicherheit, selbst nie obdachlos zu werden. Oder extreme Angst davor, die zur Verdrängung jeder Erinnerung an die Möglichkeit, obdachlos zu werden, zwingt. Monomi auf taz.de
Brutale Vertreibung
Es reicht schon, dass die zuständigen Beamten das Recht erhalten, Zeltstädte abzureißen. Auf diese Weise wird den Menschen noch das wenige, das sie besitzen, weggenommen und im Müll entsorgt. Nicht mehr weit bis zu den Szenen, in denen Menschen vor Bulldozern fliehen müssen, die ohne Rücksicht auf Menschenleben durch die Gemeinschaft pflügen. Herma Huhn
Schau ich mich hier vor Ort (in Nürnberg) um, dann bin ich ziemlich sicher, dass Containersiedlungen und Trailerparks der nächste Schritt (nach unten) sind.
Minchi auf taz.de
Die taz-Redakteurin schreibt: „Obdachlosigkeit ist die chronische Krankheit dieser und fast aller Metropolen.“ Richtig, denn man muss gar nicht über den großen Teich schauen, im reichen Deutschland sind die Städte auch schon voll mit Obdachlosen. Man muss sich das einmal vor Augen halten: Frauen, oftmals sogar im hohen Alter, sind in diesem reichen Land obdachlos und müssen auf der Straße leben, aber kein Politiker in Deutschland schämt sich dafür. „Mammon first!“‚ steht in den kapitalistischen Ländern immer noch an erster Stelle. Ricky13 auf taz.de
„Alkoholiker sind ‚schwierige Mieter‘ “? Sie sind nicht schwierige Mieter, sie sind gefährliche Mieter, unzuverlässig und gewalttätig. Ein Behandlungskonzept, das dem nicht Rechnung trägt, muss scheitern. Laissez-faire ist kein humaner Umgang, sondern führt dazu, dass Obdachlose auf Parkbänken erfrieren.
Claude Nuage auf taz.de
Im Oktober 2024 äußerte Elon Musk auf Fox News sinngemäß Folgendes: Obdachlos sei eine Fehlbezeichnung. Sie suggeriere, dass Leute vielleicht verschuldet sind, und wenn man ihnen einen Job vermitteln würde, wäre ihnen geholfen. Was man aber tatsächlich habe, seien gewalttätige Drogenzombies mit toten Augen, Nadeln und menschlichen Fäkalien auf der Straße. Je mehr Geld für die Bekämpfung der Obdachlosigkeit ausgegeben werde, desto schlimmer werde es damit. So spricht der reichste Mann der Welt, geboren im ehemaligen Apartheidstaat Südafrika und aufgewachsen in einer privilegierten weißen Familie.
Uns Uwe auf taz.de
Ich habe einmal ein Praktikum in einer Obdachlosenstation gemacht. Dort sagte man mir: Die drei Gründe, die in die Spirale zur Obdachlosigkeit führen können, sind Krankheit, Arbeitsplatzverlust oder der Verlust einer Beziehung. Interessant ist der Ansatz von „Greater Change“ in England, bei dem Obdachlose eine Art Notfinanzierung bekommen. Das wird gerade in Zusammenarbeit mit dem King’s College London untersucht. Arte hat es dokumentiert. Michael Wirtz
Pläne in Schubladen
In den USA wird das Housing-First-Konzept erfolgreich bekämpft von konservativen Thinktanks. In den USA und in Kanada hat fast jede Stadt, jeder Bundesstaat (oft schon seit Jahrzehnten) staatliche Pläne zur Beendigung der Obdachlosigkeit. Die Realität ist aber eine andere. In Berlin liegen diese Pläne in der Schublade der Bundesbauministerin zur EU-Strategie, Obdachlosigkeit in der EU bis 2030 zu beenden.
Das Housing-First-Konzept wurde von einigen Experten nach Deutschland gebracht – vor allem, um weiter Forschungsmittel zu erhalten für ihre Institute und um schöne Fachaufsätze zu publizieren. In der Realität erreicht das Housing-First-Konzept vermutlich noch nicht einmal ein Prozent der obdachlosen Menschen hierzulande.
Die Initiativen der Wohnungslosenhilfe sind überlebenswichtig für die Menschen auf der Straße, aber in der Sache selbst gibt es keine wirkliche Änderung, weil die Politik nicht will. Es würde sich ändern, wenn man wie in Finnland den politischen Willen hätte und die EU-Ebene sich wirklich durchsetzen könnte. Es darf als ersten Schritt keine Zwangsräumungen in die Obdachlosigkeit mehr geben, sondern nur noch direkt in eine andere Wohnung.
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