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wortwechseldocumenta fifteen war bunt und vielfältig

Die Berichterstattung der taz über die documenta in Kassel war vielen Le­se­r*in­nen zu einseitig. Die Vielfalt und der sachliche Umgang mit dem Antisemitismus kamen zu kurz

„Wir gegen das Imperium“, taz vom 22. 9. 22 , „Das Kollektiv der Kollektive“, taz vom 24. 9. 22

Vielfalt

Die heftige Diskussion um die diesjährige Documenta hat mich dazu angeregt, nach Kassel zu fahren. Angesichts der konfrontativen Medienstimmen war ich dort von der entspannten und positiven Grundstimmung überrascht und ganz begeistert von der Vielfalt der außereuropäischen Initiativen. Das Auswahlkriterium von KuratorInnen von Ruangrupa, die Teilhabe an der Praxis des lumbung und seiner Grundwerte, hat zu einem Zusammentreffen von Kollektiven – besonders zahlreich aus Afrika und Asien – geführt, das für mich im positiven Sinne konzentriert war: einmalig und sehr anregend! Ich bin fasziniert und sehr eingenommen von dem Konzept, das die indonesischen KuratorInnengruppe anbietet. Eine sehr mutige Entscheidung der Documenta-Verantwortlichen und der Stadt Kassel angesichts der bisherigen Documenta-Gewohnheiten! Kaum gerahmte Bilder an den Wänden, kaum fertige Skulpturen auf Sockeln, stattdessen viel Angefangenes, Beispielhaftes von aktivierenden Projekten sozialer, ökologischer und anti-kolonialer Bewegungen. Kunst verstanden nicht als Objekt, sondern als gemeinschaftliche Praxis! Von diesem Verständnis und dieser Praxis hätte eine breite öffentliche, anregend-kontroverse Debatte im Hinblick auf „unsere“ Rezeptions- und -Produktionsgewohnheiten ausgehen können. Umso beklemmender finde ich die für die öffentliche Wahrnehmung fast ausschließlich in den Vordergrund gestellte Debatte um einige Werke mit antisemitischen Bildelementen. Über die berechtigte Kritik daran, die Gesamtveranstaltung dieser Documenta und die Kuratorengruppe für gescheitert zu erklären, den sofortigen Stopp zu fordern und darauf zu bestehen, dass eine so kuratierte Veranstaltung nie wieder zugelassen wird, finde ich unverhältnismäßig. Dass wir in Deutschland uns scharf von Antisemitismus abgrenzen, ihn auch unterbinden, ist unverzichtbar! Nötige Maßnahmen und Diskussionen sollten aber auf den konkreten Anlass bezogen bleiben und nicht selbst pauschalisierend eine ganze Bewegung, hier die Kunst und Praxis des lumbung unter Bann stellen. Mein Dank gilt allen, die zur Durchführung der Documenta, ihrem Gelingen und zu einer klärenden und offenen Diskussion beigetragen haben. Margrit Thimme, Mülheim an der Ruhr

Kontroverse versachlichen

Gegen Ende der Documenta 15 muss ich leider feststellen, dass es in Ihrer Zeitung über den gesamten Zeitraum seit Eröffnung der Documenta nicht den Ansatz eines ernsthaften Bemühens gab, die Kontroverse dadurch zu versachlichen, dass unterschiedliche Seiten zur Sprache kommen. Damit wird die taz ihrem kritischen Anspruch nicht gerecht. Im Deutschlandfunk war ein Gespräch mit dem Kulturjournalisten Tobi Müller, das unter der Überschrift „Verpasste Chance“ stand. Die Darlegungen von Toni Müller teile ich. Danach hatte das Antisemitismusgeschrei vor allem auch die Funktion, eine Debatte um den westlichen, auf individueller Autorenschaft gegründeten Kunstbegriff im Keim zu ersticken. Diese Debatte wäre nötig, wurde durch die Eröffnung eines Nebenkriegsschauplatzes aber gar nicht erst zugelassen, um sich dann bitter über fehlende Dialogbereitschaft, die selbstredend nur beim Kuratorenteam ausgemacht wurde, zu beschweren. Cornelia Heintze, Leipzig

Jung und divers

Wütend und beschämt habe ich euren Verriss der documenta fifteen gelesen. Zugegeben: so ganz leicht konsumierbar war diese documenta nicht, allein schon, weil sie so vielfältig war. Als Kasselerin mit einer Dauerkarte hatte ich das Privileg, mir über 100 Tage einen Eindruck zu verschaffen. Und mein Fazit: Ich bin berührt und beeindruckt, wie ich es bisher noch nie war. Natürlich wurden Bilder gezeigt, die man so in Deutschland nicht zeigen kann und natürlich war das Krisenmanagement katastrophal. Aber diese documenta war dennoch keine antisemitische Skandalschau. Nie zuvor habe ich so viel gelernt über die Bedingungen und Ergebnisse künstlerischer Prozesse z. B. in Afrika, Haiti, dem Gazastreifen oder Indonesien. Zum ersten Mal gab es Begleitmaterialien, die ich verstehen konnte, weil sie nicht in abgehoben elitärer Kunstsprache verfasst waren. Nie zuvor habe ich ein so junges und diverses Publikum auf der documenta gesehen. Vielleicht auch deshalb, weil sich die Kollektive um Augenhöhe bemühten und viele Menschen zur Teilhabe einluden: Kasseler Bürgerinnen, Architekt*innen, Schulkinder und Menschen mit Behinderungen. Ruangrupa hat für 100 Tage eine Atmosphäre in Kassel geschaffen, in der sich Menschen aus aller Welt begegnen, austauschen, staunen, lernen, verstören lassen und gemeinsam lachen und genießen konnten. Es gab Klanginstallationen, die so schön waren, dass einer die Tränen kommen konnten, es gab lustige Kunstwerke, lehrreiche, politische und verstörende. Und es gab eine unglaubliche Vielfalt. Ich jedenfalls bin traurig, dass es jetzt vorbei ist und beschämt, dass wir in Deutschland für die Künst­le­r*in­nen so schlechte Gast­ge­be­r*in­nen waren. Maren Kolshorn, Kassel

Bunt und kreativ

Die Buntheit und Kreativität der großen Pappfiguren vor dem Hallenbad Ost, der Komposthaufen weit hinten in der Karlsaue, ein Projekt, in dem die „mehr als menschliche Welt“ sich äußern konnte, die Objekte des „Festival sur le Niger“ im Hübner-Areal, die Figuren eines Künst­le­r:in­nen­kol­lek­tivs aus Haiti in St. Kunigundis. Die alten kurdischen Gesänge im Obergeschoss des Fridericianums konnten sogar dort spürbar machen, was gemeint ist mit „diese Lieder kommen aus der Erde“. Nur einige wenige Beispiele von Kunstwerken, in denen eine „Vermengung mit Israelkritik“ für mich nicht feststellbar war … Ich bin immer noch beeindruckt von der Vielfalt künstlerischer Äußerungen des Widerstands gegen Ausbeutung und Naturzerstörung in verschiedenen Regionen der Erde. Wieso gerade in der taz nicht beschrieben, erforscht, wertgeschätzt wurde, wie diese andere Kunst, die in der documenta 15 Ausdruck fand und kollektiv und kommerzfern arbeitet, verstehe ich nicht wirklich. Annette Härtel, Ludwigsburg

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