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wortwechsel„Licht am Ende meines Erinnerungstunnels“

Millionen Kinder wurden bis Ende der 1980er Jahre verschickt in Heime, aus denen etliche traumatisiert zurückkehrten. taz Le­se­r:in­nen erzählen von ihrer Aufarbeitung dieser Zeit

„Wir Verschickungskinder. Viele Millionen Mädchen und Jungen sind bis Ende der 1980er Jahre in der Bundesrepublik allein auf Kur gefahren. Dort haben sie teils traumatische Erfahrungen gemacht. Unsere Autorin begibt sich auf Spurensuche“, taz vom 11./12. 12. 21

Antworten finden

Versunkene Fragen von Tausenden … Sabine Seifert ist es in ihrem Artikel bei eigener Betroffenheit durch unaufgeregte Sachlichkeit und gründliche Recherche gelungen, das durch Anja Röhl gehobene Thema der Kinderverschickungen durch neuere Forschungsansätze, eigene Erfahrungen und Gespräche mit Verantwortlichen und Betroffenen zu aktualisieren. Mir als Betroffener kommen neue Fragen in den Kopf, in meine Seele. Wenn gute Journalistinnen und eine täglich größer werdende Initiative helfen, Antworten zu finden, dann sehe ich Licht am Ende meines Erinnerungstunnels.

Regina Dreißig, Berlin

Nichts machen können

ich war 1959 oder 1960 im kinderheim in kalzhofen bei oberstaufen zur „erholung“. ich sah mit eigenen augen, wie ein kleines weinendes mädchen mit vielleicht 5 oder 6 jahren ihr erbrochenes essen musste. und ich fühlte mich so hilflos, ich konnte nichts machen. deswegen bin ich nachts aufgestanden und habe das besteck versteckt. heute noch sehe ich das kleine mädchen am tisch sitzen und weinen.

Eva Kiss, München

Ich blieb verschont

Die Traumatisierungen vieler Menschen in den sogenannten Kinderverschickungen müssen dringend aufgearbeitet werden. Auch ich war eines dieser Kinder, bin aber von solchen Erlebnissen verschont worden. Ich hoffe, dass es mehr solcher Heime gab wie das im schweizerischen Tessin, in dem ich als Neunjährige zusammen mit meiner etwas älteren Schwester 1960 sieben Wochen verbrachte.

Als rachitisches Kind mit einer überstandenen Tuberkuloseinfektion sollte ich dort Höhenluft tanken und an Gewicht zunehmen. Natürlich schmeckte das Essen nicht immer, aber das war zu Hause nicht anders. Wir konnten uns nicht aussuchen, was uns schmeckte.

Auswüchse der schwarzen Pädagogik, etwa, Erbrochenes aufessen zu müssen, habe ich nicht erlebt. Es gab weder Schläge noch sonstige Strafen.

Wir hatten neben den Diakonissen, die immer etwas unnahbar waren, freundliche Erzieherinnen. Meiner Schwester dienten sie übrigens als Vorbilder für ihre spätere Berufswahl. Abends sangen sie mit uns unter den Kastanienbäumen auf dem Hof und brachten uns eine Menge von Liedern bei, die mich immer wieder begleitet haben.

Was mir nicht so gut gefiel, war, dass es wenige Ausflüge nach draußen gab. Nur die „Berliner Kinder“, die ebenfalls in dieses Heim verschickt wurden, machten mehrere Busfahrten etwa an den nahe gelegenen Luganer See. Für sie gab es extra Geld, weil sie ja aus der „verschlossenen Stadt“ kamen. Für uns kleine Hessinnen gab es halt nur den Tagessatz der LVA (Landesversicherungsanstalt), der für das Chartern eines Busses nicht ausreichte. Das fand ich damals ungerecht.

Ich bedauere es sehr, dass so viele Kinder damals schlimme Erfahrungen machen mussten, möchte aber doch, dass nicht alle Einrichtungen dieser Art als Kindermisshandlungszentren angesehen werden. Lieselotte Wendl, Hofheim

Angst, Scham, Ohnmacht

Anfang der 60er Jahre wurde ich nach Berchtesgarden verschickt. Als vor circa zwei Jahren die ersten Berichte in den Medien erschienen, kam das Verdrängte ins Bewusstsein. Ich habe die Zurschaustellungen und die öffentliche Beschämung erlebt: Abends durften wir nicht mehr auf die Toilette, und ich habe eingenässt; erst beim Kleiderwechsel durfte ich wieder eine Schlafanzughose anziehen. Mit am Schlimmsten, dass ich Milchreis mit Zimt aufessen musste. Noch heute zieht mein Magen sich zusammen, wenn ich daran denke. Mit meinen Eltern konnte ich nicht darüber reden.

Ich war so verunsichert, dass sich meine schulischen Leistungen verschlechterten. Angst, Scham, Ohnmacht und Wut habe ich tief in mir vergraben. Gleichwohl habe ich in den Jahren danach meine Umgebung sensibel beobachtet. Die Wut wandelte sich langsam in ein Engagement für Gerechtigkeit. Ab Mitte der 70er Jahre habe ich mich in verschiedenen sozialen Bewegungen der Zivilgesellschaft für Gerechtigkeit engagiert. Reiner Schulze, Berlin

Ein langer Leidensweg

Liebe taz, beim Lesen des Artikels „Wir Verschickungskinder“ ist es sofort wieder da, das ohnmächtige Gefühl der Wut und Trauer. Mein Bruder war als dreijähriges Kind 1969 mit der Diagnose „Asthma“ im Verschickungsheim Norderney. Was er nach seiner Rückkehr mitbrachte, waren ein lebenslanger Sprachfehler, Konzentrationsstörungen und auffällige Unruhe (ADHS). Es folgte ein langer Leidensweg mit Ritalin, Mobbing in der Schule, auf dem Arbeitsplatz und später eine schwere Drogenabhängigkeit. Sein Leben endete in der JVA Düsseldorf. Ilona Asholt, Düsseldorf

Jede Wahrheit leuchtet

Es macht mich betroffen, über die Schicksale meiner Lei­dens­ge­nos­s*inn­nen zu lesen. 1972 selber ernsthaft erkrankt, wurde ich im Alter von 18 Monaten für 26 Wochen alleine ins Krankenhaus geschickt, ins „Erwachsenenleben“. Wiederkehrend als weitere Aufenthalte in darauf folgenden Jahren. Diese Art der Genesung hat mir geschadet, aber die Bewältigung der so entstandenen Leiden brachte mich auf einen bemerkenswerten Lebensweg, den ich mir selber nicht erträumen konnte. Ich meine das positiv, denn ich bin beruflich und familiär erfolgreich und seit einem Jahr schwerbehindert aufgrund der psychischen Beschwerden.

Es zahlt sich nicht aus, die Symptome unserer Geschichte zu leugnen. Jede Wahrheit leuchtet, ausgesprochen, wie der helle Stern denjenigen, die selber auf ihrer eigenen Reise sind.

Kerstin Pfennigsberg, Bad Oeynhausen

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