wortwechsel: Schüsse an der Grenze – Armutszeugnis der EU
Wird der Konflikt an der türkisch-griechischen Grenze zu einem „Krieg gegen die Geflüchteten“ führen, vielleicht auch zu einem Krieg zwischen Griechenland und der Türkei?
2020 ist nicht wie 2015
„EU-Kurs in Flüchtlingskrise – Von der Leyens Dilemma“, taz vom 9. 3. 20
Ich bin kein Freund von diesem widerlichen Despoten Erdoğan. Aber zu behaupten, dass die Flüchtlingskrise ähnlich wie die von 2015 ist, stellt schon eine besondere Fehleinschätzung da. Die Türkei hat so viele Flüchtlinge aufgenommen, dass sie nicht mehr verkraften kann. Die gesamte EU hat erheblich weniger Flüchtlinge aufgenommen als die Türkei. In großen Teilen leben dort die Flüchtlinge unter extrem unmenschlichen Bedingungen. Auf dem türkischen Arbeitsmarkt werden sie ausgebeutet, leben schon ewig in Zeltlagern und sind auch Anfeindungen vonseiten der türkischen Bevölkerung ausgeliefert. Es gab eine Zeit, da sind an innerdeutschen Grenzen Menschen erschossen worden – und der Westen hat dies zu Recht angeprangert. Jetzt lässt der Westen in Teilen der EU es zu, dass auf Menschen geschossen wird, die an den Grenzen um Einlass erst gebettelt und gefleht haben, um dem Elend und der Not, der sie seit vielen Jahren ausgesetzt sind, zu entfliehen. Kurde auf taz.de
Dilemma mit Geschichte
„Von der Leyen spricht von tiefem Dilemma der EU“, taz vom 10. 3. 20
Berlin und Brüssel befinden sich bei der Flüchtlingskrise in einem Dilemma, weil seit 2015 nicht viel geschehen ist. Europa ist gespalten, und die Mehrzahl der Länder redet zwar viel von Menschlichkeit und Hilfe für Flüchtlinge, aber in der Praxis verweigern sich die meisten Staaten dann doch. Sowohl Frau Merkel als auch die neue EU-Ratspräsidentin Von der Leyen haben außer leeren Worthülsen keine Rezepte, wie man am besten mit der Flüchtlingskrise umgehen sollte. Auch im Umgang mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan, der eindeutig als der Verursacher dieser neuen Krise zu werten ist, gibt es nur zögerliche Reaktionen. Es sollte endlich eine klare politische Ansage geben: Die EU-Außengrenzen müssen geschützt und die Erpressung von Herrn Erdoğan muss hart sanktioniert werden. Ansonsten laufen wir Gefahr, dass wir weiter von rechtsnationalen Kräften unterwandert werden und der europäische Gedanke keine Zukunft mehr haben wird.
Thomas Henschke, Berlin
Geschickte Ablenkung?
„Gegen die Wand“, taz vom 5. 3. 20
Reden wir über europäischen Terror, der in Hetzjagden und Gewalteskapaden gegen weinende, schreiende, verzweifelte Menschen vor Stacheldrahtzäunen kulminiert. Als wäre diese humanistische und moralische Bankrotterklärung nicht genug, diese ungeheuerliche politisch-militärische Gewalt gegen wehrlose, hilflose Kinder, Frauen und Männer, verliert die neue EU-Ratspräsidentin in ihrer Sprache der Macht kein Wort des Mitgefühls, keine Silbe der Aufforderung zur Mäßigung. Und worüber redet Daniél Kretschmar? Ein verbaler Fehlgriff wird zu einer diffamierenden Volte gegen die Linke gedreht, aufgebauscht zu einem epochalen Ereignis, als sei diese Partei dabei, die Reichen mordend, das demokratische Gemeinwesen zu zerstören. Eine geschicktere Ablenkung von der barbarischen politisch-militärischen Gewalt, mit der verängstigte und hungernde Menschen wie räudiges Vieh gemeuchelt werden, können Söder und Seehofer kaum wünschen. Angesichts dieser so bizarren wie historisch allzu erinnerungsträchtigen Exzesse – Griechenland ist ja nur das aktuelle Szenario – stellt sich das Problem: Wie kommen die, die den Wunsch nach Weiterleben für sich und ihre Kinder haben, gegen eine Gewalt an, gegen eine obszöne Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben und der Natur, die „keine Verwandten“ kennt, wenn ihre Pfründen angetastet werden sollen?
Günther Rexilius, Mönchengladbach
„Wertegemeinschaft“?
„Migration und der Zerfall Europas. Menschenrechte: egal“, taz vom 3. 3. 20
Bettina Gaus sieht den viel zitierten Begriff Wertegemeinschaft kritisch. Das freut mich sehr.
Der Philosoph Günther Anders hat bereits vor vierzig Jahren den Begriff „Werte“ auf eine schwarze Liste gesetzt und begründet, „dass es keinem eingefallen wäre, alles, was nicht auf den ersten Blick nützlich oder konsumierbar ist, unter einem einzigen Dachbegriff unterzubringen“. Günther Anders weist darauf hin, dass der „barbarische Begriff“, der aus der Finanzwirtschaft stammt, erst nach 1850 in die Philosophie und erst in den Zwanziger Jahren in die Trivialsprache eingedrungen ist. Die gegenwärtig auf vielen Feldern der Politik zu verzeichnende Negierung grundlegender, ethisch gebotener Handlungsweisen – etwa im Flüchtlingsschutz – ist erst die Voraussetzung dafür, dass nunmehr überall „Werte“ auftauchen, die einer schwankenden Konjunktur unterworfen, von geringer Lebensdauer und geringer Nachhaltigkeit sind.
Thomas Keller, Frankfurt a. M.
Vertrauen in Demokratie
„Griechenlands Umgang mit Flüchtlingen: Grenzöffnung wäre fatal“,
taz vom 6. 3. 20
Ich schätze Jost Maurins treffende Kommentare zu Landwirtschaft und Umweltfragen. Seine Bewertungen der Lage an der türkisch-syrischen Grenze und seine damit verbundenen Verhaltensempfehlungen sind aber völlig abwegig. Sie entsprechen völlig den Warnungen aus Unionskreisen, erlaubte Grenzübertritte neuer Flüchtlinge würden Millionen zu uns locken. Würden Maurins Thesen allgemeiner Konsens, wäre das für Rassisten und Neonazis das Signal: „Das haben wir der AfD zu verdanken, die feigen Demokraten verkriechen sich vor Angst!“ Die AfD hat einen Bodensatz von Mieslingen an die Wahlurnen gelockt, den es schon lange gibt. Diesem Bodensatz haben sich von den etablierten Parteien bitter Enttäuschte zugesellt. Aber bei einer menschlicheren Flüchtlingspolitik zu befürchten, sie ließe die Bäume der AfD in den Himmel wachsen, heißt, der gesellschaftlichen Mehrheit in einem Maße zu misstrauen, das der Demokratie immer mehr die Luft zum Atmen nimmt. Jürgen Kasiske, Hamburg
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