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wortwechsel100 Jahre Waldorfschule – geliebt und umstritten

Rudolf Steiners Anthroposophie gilt als ganzheitliche Reformpädagogik mit freiheitlichem Impetus – oder als autoritäre Sektenphilosophie. Auch die „taz Gemeinde“ ist gespalten

Waldorfschule in München, hier mit präpariertem Gasthirsch im biologischen Begleitunterricht über den Lebensraum im Hochmoor Foto: Theodor Barth/laif

„Waldorfschulen sind wie Rammstein“,

taz vom 7./8. 9. 19

Bedürftige zahlen nichts

Danke für die Geburtstagswünsche; allerdings wird die Waldorfschule nur zu ungefähr 85 Prozent vom Staat finanziert und bietet wesentlich mehr Unterrichtsfächer an als vom Staat vorgesehen. Das bedeutet, dass wir Lehrer auf jeden Fall wesentlich weniger Geld verdienen als unsere Kollegen an den Staatsschulen. Wesentlich ist: Wir brauchen zwar Elternbeiträge, aber wenn die finanziellen Verhältnisse es nicht erlauben, bezahlt man eben auch gar nix. Das kann jeder beantragen, der sein Kind auf unsere Schulen schicken möchte. Ich selbst habe als alleinerziehende Mutter nichts bezahlt, jahrelang. Also bitte fair bleiben. Außerdem gibt es an vielen Waldorfschulen (an meiner auch) einen gemeinsamen Topf. Das bedeutet, dass alle Lehrer, ob Grundschule oder Abitur, das gleiche Gehalt bekommen. Ist auch mal etwas Erwähnenswertes – das gibt’s sonst nicht.

Susanne Stott, Herdecke

Steiner – ein Antisemit?

Liebe tazler, Ihr Geburtstagsglückwunsch zu 100 Jahre Waldorfschulbewegung ist vergiftet. Der Seitenhieb des „Elitären“ ist bar ausreichender Geschichtskenntnis. Die Waldorfschulbewegung ist angetreten, das gesamte öffentliche Kulturleben, also auch Schule und Hochschulen, aus der Vormundschaft des Einheitsstaates zu befreien und in die Selbstverwaltung gelangen zu lassen („Dreigliederungsbewegung 1919–1921“). Moderne Erziehung tendiert ihrem Wesen nach zu Öffentlichkeit und Autonomie. Waldorfschulen sind seit einhundert Jahren Fürsprecher für ein freies und öffentliches Schulwesen. Ganz daneben haut Ihr Autor, wenn er Steiner eines antisemitischen Weltbildes bezichtigt! Das ist infam und irgendwo abgeschrieben. Steiner war während der engen Freundschaft mit dem jüdischen Dichter und Gründer des Klubs „Die Kommenden“, Ludwig Jacobowski, der unsäglich unter dem Antisemitismus im Kaiserreich litt, leidenschaftlicher Autor in dessen Zeitschrift gegen Antisemitismus. Auch Steiners Freundschaft mit Rosa Luxemburg während ihrer gemeinsamen Zeit an der Arbeiterbildungsschule spricht eine deutliche Sprache.

Manfred Kannenberg-Rentschler, Berlin

Esoterisches Denksystem

Hallo! Es ist doch nicht der Antisemitismus des Gründers, der hauptsächlich gegen die Anthroposophie und damit auch die Waldorfschulen spricht, ebenso wenig wie die private Exklusivität dieser Einrichtungen. Das gesamte Denksystem ist esoterisch, vollkommen unwissenschaftlich und vielerorts menschenverachtend – nicht zuletzt bezüglich des erwähnten epochalen Unterrichts, der auf einer Dreiteilung von Lebensphasen beruht, die nicht nur jeder entwicklungspsychologischen Erkenntnis widerspricht, sondern auch äußerst autoritäre Strukturen bezüglich Wissensvermittlung und dessen Personal offenbart. Dirk Heinen, Köln

Eine „Erziehungskunst“

Die alle Bereiche menschlichen Seins umfassenden Leistungen und Erneuerungen Rudolf Steiners und das Engagement, was von den Lehrkräften und Eltern an den Waldorfschulen verlangt und erbracht wird, hätten mehr als einen oberflächlich recherchierten Artikel im schnoddrigen Ton verdient gehabt. Der vom Autor durchaus positiv und als erfolgreich beschriebenen Arbeit an den Waldorfschulen liegt sehr wohl das Menschenbild Rudolf Steiners vom drei gegliederten Wesen des Menschen zugrunde: Körper, Geist und Seele; Denken, Fühlen, Wollen. Alle drei Bereiche sollen im Lernprozess für eine gesunde, freie Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit und der in ihr angelegten Gaben und Fähigkeiten immer zum Tragen kommen. Deshalb ist sehr oft in Waldorfkreisen auch von „Erziehungskunst“ die Rede.

Die Gründung der ersten Waldorfschule vor 100 Jahren hängt maßgeblich mit der von Rudolf Steiner gewonnenen Erkenntnis zusammen, dass auch der soziale Organismus als drei gegliedert zu betrachten ist, und zwar in die Bereiche des Geisteslebens, des Rechts- und Staatslebens sowie des Wirtschaftslebens. Für das Geistesleben gilt als Qualität die Freiheit, für das Rechts- und Staatsleben die Gleichheit (Demokratie) und für das Wirtschaftsleben die Brüderlichkeit, zu verstehen als sozialistischer, solidarischer, urchristlicher Gedanke.

Jens-Peter Müller, Flensburg

Mehr Reformpädagogik

Ich begrüße es, im Vergleich zum bestehenden Bildungssystem, reformpädagogische Ansätze darzustellen. Aber warum wird dazu ein Loblied ausgerechnet auf die esoterisch begründete und erziehungswissenschaftlich mehr als fragwürdige Waldorfpädagogik gesungen? Es gibt jede Menge reformpädagogisch orientierte Schulen mit wissenschaftlich gut begründeten und laufend geprüften Methoden. Hier in NRW wären da beispielsweise die Laborschule in Bielefeld, die Heliosschule in Köln, alle in Kooperation mit den ansässigen Universitäten. Auch das Jenaplankonzept wurde wissenschaftlich entwickelt. Sie alle fördern und praktizieren ein angstfreies, kindorientiertes, zu Selbstständigkeit und Demokratie befähigendes Lernen. Trotz aller Bemühungen ist das bestehende Bildungssystem weit entfernt davon, solche evidenzbasierten und erprobten Konzepte umfassend zu integrieren. Dies zu recherchieren und aufzubereiten würde ich von der taz erwarten! Aber ausgerechnet der Waldorfschule huldigen? Völlig daneben. Susanne Teuerle, Köln

„Waldorf-normgerecht“

Es gibt keinen Leistungsstress wegen der Noten wie an den öffentlichen Schulen, was ist aber mit dem Stress, den die Probezeit verursacht? Und das Gefühl, nicht dazuzugehören und von der Lehrkraft nicht geliebt zu werden, weil sie nicht „normgerecht“ sind, kennen wohl alle Waldorfschüler, die im Verein Eishockey oder Fußball spielen oder einen „unpassenden“ Musikgeschmack haben.

Frank Stenner, Cuxhaven

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