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Archiv-Artikel

wiedergelesen (iv): Wilhelm Raabes „Horacker“ Der Räuber aus dem Huywald

In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autoren norddeutsche Romane, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber bis heute nicht aus dem Kopf gegangen sind

Die Bereitschaft, sich vom homo delinquens, vom Rechtsbrecher, faszinieren zu lassen, ist zweifellos auf der menschlichen Festplatte gespeichert. Die Frage, warum das so ist, hat Dichter und Denker immer wieder beschäftigt. Der Idealist Schiller argumentierte mit dem Drang nach Selbsterkenntnis („In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen“), Alfred Hitchcock bemühte die Theologie („Das absurde Verbrechen ist wie Religion: Unglaublich, aber faszinierend“), Gottfried Benn hielt sich lieber an die Tradition („Vergessen sie nie, der menschliche Geist ist als Totschläger entstanden“). Für einen Existenzialisten wie Friedrich Nietzsche basierte das Phänomen auf dem Minderwertigkeitskomplex des vermassten Individuums („Ein tugendhafter Mensch ist eine niedrigere Spezie, weil er keine ‚Person‘ ist und seinen Wert dadurch erhält, dass er in ein Schema Mensch passt“). Kollege Michel Foucault hätte das unterschrieben. Für ihn wird das Verbrechen verherrlicht, „weil es eine der schönsten Künste ist, weil es nur das Werk von Ausnahmenaturen sein kann.“

Mag sein, sagt das materialistische Denken. Aber vergesst nicht, sein Movens ist doch meistens die Aussicht auf Zugewinn. Schließlich bedeutet Geld nichts weniger als „gepresste und getrocknete Freiheit“. Dies vortreffliche Aperçu Arno Schmidts gehört in eine Reihe mit Balzacs Diktum „hinter jedem großen Vermögen steht ein Verbrechen“ oder Brecht: „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“

Keiner der zitierten Herrn würde leugnen, dass der größte Profiteur menschlicher Niedertracht letztlich die Kunst selbst ist. Das steht schon in Shakespeares Hamlet („Denn Mord, hat er schon keine Zunge, spricht mit wundervollen Stimmen“) und beruht, da war sich Film-noir-Veteran John Cassavetes ganz sicher, auf Gegenseitigkeit („Gangster sind Vollidioten, die davon profitieren, dass wir über sie Filme machen“).

Ein schönes Beispiel für die Koinzidens von Kunst und Gaunerei ist der Räuber von Halberstadt. Die satirisch gefärbte Volksballade spielt im Huywald, einem nördlichen Vorgebirge des Harzes. Wann der legendäre Beutelschneider dort gehaust hat, ist umstritten. Klar ist nur, er war nicht gerade eine Zierde seiner Zunft. Glaubt man der Moritat, bringt er eine wehrlosen Butterfrau nicht nur um die sauer erstampfte Ware, er wird auch noch grob: „Bin’s und sage dir noch dieses:/ meinem Mordstahl fallest du,/ bringst du mir nicht auf dem Rückweg/ Brot und Schlackwurst noch dazu“. Ausgerechnet diesem zweitklassigen Strauchdieb verhilft Wilhelm Raabe (1831 – 1910) zu hochliterarischem Nachruhm. Der Räuber von Halberstadt spukt durch seinen 1876 verfassten Horacker-Roman und bringt das Kreisstädchen Quedlinburg um den Schlaf. „Ein lustigerer panischer Schrecken hatte sich selten der Bevölkerung einer Gegend bemächtig, als hier von dem Tage an, seit Horacker aus Gansewinkel im großen Wald als kühner Räuber und blutiger Mörder sein Geschäft aufgetan hatte.“

Dabei ist der vermeintliche Unhold nur ein aus Liebessehnsucht der Besserungsanstalt entflohener, noch dazu völlig verängstigter Knabe. Horacker hat sich im Wald verborgen, und erst als er vor Hunger nicht mehr aus und ein weiß, war er einer alten Buttermume aus Dickburen unter den „Uhlenköpfen“ in den Weg gesprungen. Die Beute, ein Schmalztopf, ist karg, die Folgen sind grotesk.

Der stets klamme Meister Raabe, der das Stück lediglich „fürs tägliche Brot“ geschrieben hat, nutzte die Vorlage, um ein kauziges Lehrstück über Leichtgläubigkeit und die Macht der Gerüchteküche in die Welt zu setzen, über Hysterie und ihre „vielen tausend Zungen“, die jedes laue Lüftchen zum medialen Tsunami aufblasen. Dass der Staatsanwalt im Kreisblatt versichert, an den Unkereien sei „wenig oder eigentlich gar nichts“, der Räuber Horacker also „unbedingt als Mythos“ auszufassen, kann die „Fama“ nicht mehr stoppen. Erst nach 330 Seiten wird der verlorene Sohn „von der Witwe Horacker am Jackenflügel aus dem Dunkel des Waldes hervorgezogen“. Fazit: Bestes Lesevergnügen, ein Kandidat für Springers „Bild-Bestseller-Bibliothek“. MICHAEL QUASTHOFF

W. Raabes „Horacker“, Reclam, 313 S., 2,20 € (derzeit nur bei Amazon). „Sämtliche Werke“ Bd 12, 500 S. Vandenhoek und Ruprecht, 42 €