was wir noch zu sagen hätten #12: Gar nicht mythisch: Wende verschlafen
Einmal quer durch Deutschland mit der Mitfahrgelegenheit von München nach Berlin. Mein Fahrer heißt Thomas und trägt am Steuer fingerlose Lederhandschuhe. Thomas arbeitet im Bundesfinanzministerium. Dafür hat er ganz solide Einstellungen. Wir verstehen uns blendend und breiten unsere Lebensgeschichten voreinander aus: In der DDR studierte Thomas nach seiner Ausbildung Wirtschaft und arbeitete dann im Geraer Finanzamt. An Berlin gefällt ihm die Vielfalt auf engstem Raum.
Unweigerlich kommen wir darauf zu sprechen, wie er die Grenzöffnung miterlebt hat, die im pathetischen Einheitsdiskurs für meinen Geschmack etwas zu oft in die Sphäre des Mythischen gerückt wird. Aber was weiß ich schon, ich war damals noch nicht mal geboren. Am Abend des 9. 11. 1989 saß Thomas alleine zu Hause auf dem Sofa. Auf dem Bildschirm sprach Funktionär Günter Schabowski seine berühmten Worte: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“ Thomas schaltete aus und ging ins Bett. „Dass sich Menschen tatsächlich zu den Grenzübergängen aufmachen, das konnte ich mir nicht vorstellen.“ Was da vonstatten ging, habe er erst realisiert, als er am nächsten Tag in Leipzig kostenlose Exemplare der Bildzeitung ausliegen sah. Selten habe er erlebt, dass auf der Straße alle über dasselbe Thema reden.
Als Student der Wirtschaft ging er zuerst nach Frankfurt am Main, die Stadt des Geldes, weil dort 140 statt 100 Euro Begrüßungsgeld lockten. Als er im Bankenviertel aus der U-Bahn trat, war er beeindruckt. Überall große, gut gebaute Männer in Anzügen, die geschäftig durch Häuserschluchten eilten. Bald darauf bekam er ein Auto mit Getriebeschaden angedreht. Heute beklagen sich seine Eltern: „In der DDR war doch alles besser.“ Sie müssen es wissen. Denn inzwischen wohnen sie in Niederbayern. Quirin Hacker
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