was wir noch zu sagen hätten #11: Die Antwort steckt in der Frage
Neulich erzählte mir mein Großvater, er plane demnächst an den Ort zu reisen, an dem er aufgewachsen sei. Ein kleines ländliches Dorf in Südpolen, in der Nähe zur slowakischen Grenze. Ich wusste zwar, dass ein Teil meiner Wurzeln dort herkam, doch hatte ich nie die Sprache gelernt und bisher lediglich ein paar Urlaube dort verbracht. Deshalb habe ich mich auch nie mit dem Begriff Osten identifiziert, obwohl er ein bedeutender Teil von mir ist.
Als Kind dachte ich: Osten, klar, das ist das Gegenteil von Westen. Den Osten habe ich als etwas Entferntes wahrgenommen, eine geografische Lage. Irgendwann kam aber dann der Tag, an dem ich das erste Mal einen Globus in der Hand hielt und merkte, dass der Osten gar nicht aufhört.
Wie geschieht also eine geografische Benennung, wenn wir alle auf der gleichen Erde leben? Vielleicht durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die auf Erfahrungen basieren? Mit diesen identifiziert man sich auf individueller Ebene oder eben nicht. Es geht um die eigene Wahrnehmungsspannweite, um die Entscheidungen darüber, welche Themen man selbst für relevant hält und durch welche man sich mehr angesprochen fühlt.
„Alles Osten?“ symbolisiert für mich eine Identitätsfrage, aber auch die Bereitschaft, sich nicht vor Themen zu verschließen, die außerhalb des eigenen Alltags liegen. Sie ermutigt uns, Solidarität und Empathie zu entwickeln, die uns helfen, einen kulturellen und sozialpolitischen Dialog zu führen, in dem keine geopolitische Hierarchie existiert. Gemeinsam nach Antworten zu suchen, wie ein kollektiv besseres Leben gestaltet werden kann. Die Antwort sehe ich in der Fragestellung und behaupte, dass die Tatsache der Unterschiede eine Gemeinsamkeit darstellt. Kim Tadday
Hier schreiben unsere Autor*innen wöchentlich über den Osten. Oder was …
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen