vorlesungskritik Die vitale Kraft der Prof. Ilse Middendorf: Atem erfahren
Wenn Prof. Ilse Middendorf, die Grande Dame des Atmens, einen Vortrag in der Urania hält, dann bringt sie Glamour an diesen Ort, dem stets etwas Dröges und seltsam Stehengebliebenes anhaftet. Urania, das sind populärmedizinische Vorträge, thematisch abgestimmt auf die Bedürfnisse der Mitgliedergemeinde. Das ist die „gemütliche Cafeteria“ mit dem Eduscho-Ambiente, das sich an der Glasvitrine bricht, in der die „Melbaorangensahnetorte“ steht und hinter ihr die Bedienung in Schwarzweiß. Perlgraupensuppe gibt es und Fischtopf „Odessa“. Oder ein Paar Knacker mit Salat? In der Pachttoilette führt eine ondulierte Dame das Regime. Die Zeit fließt langsamer in der Urania, und sie hat Relikte zurückgelassen, versprengte Zeichen, die auf ihre architektonische Umwelt treffen wie Opernflair auf die öde Hässlichkeit eines evangelischen Gemeindehauses.
Wenn also Frau Prof. Middendorf, die dreiundneunzigjährige Begründerin des „Instituts für den Erfahrbaren Atem“, mit den geschmeidigen Bewegungen eines jungen Mädchens und fliederfarben „in Chanel“ die Bühne emporsteigt, dann beginnt die Urania zu schimmern. „Meine Damen und Herren, liebe Atemfreunde“: Zunächst gehe es darum, zu erfahren, was Atem bedeutet. Und weil „erfahren“ eben nicht „darüber reden“ meint, werden aus vierhundertfünfzig ZuhörerInnen im Saal flugs vierhundertfünfzig erfahrend Atmende, die „üppig und mit Freude“ die Hände nach oben ausstrecken: „Beim Dehnen kommt der Einatem, ganz von allein.“
Drei Arten von Atem werden unterschieden: der unbewusste, der willentliche („vor dem ich ja bereits gewarnt hatte“) und der „erfahrbare Atem“. Hier geht es um Wahrnehmung: „Wir spüren, wie sich die Leibwände im Einatmen dehnen und im Ausatmen in die Ausgangslage zurückschwingen. Stimmt das?“
Die alte Dame lächelt verschmitzt. „Sie brauchen nur ein wenig Ja zu sagen.“ Beeinflusst werden darf der Atem nur durch leichte Veränderungen der Haltung, etwa durch das Rollen der Zunge im Mund. So wird die Atembewegung vergrößert, und tiefer zu atmen heißt entspannen. Eine „schöne Alltagsübung“: „Das ist nämlich wunderbar. Wenn Sie sich mal ärgern, dann gleich die Zunge umlegen. Erstens fragt Ihr Partner: Was ist denn mit dir? Und dann sagen Sie: Schlag mal die Zunge ein.“ Weil der Atem auch von der Haltung abhängt, schreitet Frau Middendorf in verschiedenen Körperhaltungen die Bühne entlang, als sei die ein kleiner Laufsteg. Gewicht auf die Ballen, den Körper federnd, so kann der Atem den ganzen Körper durchdringen: „Manche kommen bis in die Füße, das weiß ich: Ich komme auch ganz runter.“ Und das Auditorium? „Soll ich noch mal fragen?“, fragt die alte Dame, kichernd mit der Hand vor dem Mund und dem Charme eines Backfischs, wie es hier wohl heißen muss.
Der erfahrbare Atem wirke „lösend und anregend auf den ganzen Organismus“, so Frau Middendorf, und hier fällt mir wieder eine Freundin ein, die beim Stichwort „Atmen“ sofort an die Performancekünstlerin Annie Sprinkle dachte, die angeblich Orgasmen bekommt, allein durch richtiges Atmen. Ich musste eher an die Masturbationslehrvideos von Betty Dodson denken: Don’t stop breathing. Aber das ist wohl kaum gemeint mit dem Ratschlag, man solle „eine lebhafte Gruppe finden, die sich am Atem übt“.
Die Middendorf’sche Atemlehre kennt den Begriff der „vitalen Kraft“, die im „unteren Bereich“ liegt. Beckenboden. Das ist doch begrifflich ganz dicht an Dodson dran. Ob es auch dasselbe meint? Aber wo der Middendorf’sche Atem auf dem Weg in die Füße so vorbeischaut, ist als Frage einfach indezent. Wo sie doch so reizend ist. Ein Backfisch dazu. Und vital in jedem Fall.
KATRIN KRUSE
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