vorlauf: Ein müder Buddha
Sperling und das letzte Tabu (20.45 Uhr, Arte)
Ein guter Kommissar schläft nie. Selbst wenn er sich mal kurz verdrückt, um im Garten für ein paar Minuten die Augen zu schließen. So wie Sperling (Dieter Pfaff), der vor all den Wichtigtuern auf der Party des Starschreibers Kohnart (Matthias Herrmann) in den Sommerpavillon des Gastgebers flüchtet. Als der müde Buddha sein Nickerchen unterbricht, fällt sein Blick auf Kohnart und dessen Tochter Andrea (Henriette Heinze); der Mann umarmt das Mädchen in einer Weise, die für einen Vater unangemessen ist.
Sperling hat genug gesehen: Kohnart muss ein Verhältnis mit der Tochter haben. Am nächsten Morgen liegt der Journalist mit durchschossenem Schädel in seinem Arbeitszimmer. Die Sache scheint eindeutig, doch den Kommissar beschleichen Zweifel. Und genau in der Darstellung dieser Zweifel liegt die Stärke von „Sperling und das letzte Tabu“: Wird das Thema Inzest in Fernsehkrimis inzwischen immer häufiger missbraucht, um einen schwachen Plot am Laufen zu halten, geht das von TV-Veteran Peter Schulze-Rohr inszenierte Täterrätsel in die Tiefe. Abgesehen von einigen Drehbuchhängern zeichnet sich die Produktion durch ungewöhnliche Gründlichkeit aus. Hier wird der Missbrauch nicht als bloße Behauptung in den Raum gestellt, hier wird eine Studie über Wahrnehmung geliefert. Sperling jedenfalls verhält sich umso zögerlicher, je mehr Indizien er für seine These zusammenrafft: Andrea trägt Narben von Schnittwunden an ihren Pulsadern, sie hat einen Schuldkomplex und offensichtlich leidet sie an Bulimie – alles Zeichen, die auf einen Missbrauch schließen lassen. Aber reicht das aus, um das Ungeheuerliche zu behaupten? Gleichzeitig erscheint Sperling der zärtlich-verspielte Umgang, den er selbst mit der anderen Tochter des Hauses pflegt, in Anbetracht des Falles auf einmal als unangemessene Vertraulichkeit. Der Kommissar zum Knuddeln – hier zaudert und hadert er wie noch nie. Und es sind diese Selbstzweifel, die jenen Wahrnehmungsprozess in Gang bringen, die Sperling nach und nach ins Innere dieser verwüsteten Familie tragen. Einen empfindsameren Ermittler kann man zur Zeit im deutschen Fernsehen nicht finden.
CHRISTIAN BUSS
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen