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Archiv-Artikel

vogelbeobachtung im winter von WIGLAF DROSTE

Es gibt Momente im Leben, in denen plötzlich eine Tür aufspringt, die für alle Zeit verschlossen schien. Plötzlich geht alles, was bis dahin nicht möglich war. Die erste Lektüre von Ringelnatz war so ein entscheidender Augenblick, der Sprung in den reißenden Münchner Eisbach mit Ulrike Kowalsky, die Aphorismen von Oscar Wilde, das eigene Dylan-Duett mit Danny Dziuk 1991, „One too many mornings“, die Begegnung mit Vincent Klink, der Auftritt von Johnny Cash im September 1995 in Berlin, das Kennenlernen des Spardosen-Jazztrios, das Spiel von Alba Berlin gegen Barcelona, in dem Henning Harnisch eine Trefferquote von 100 Prozent hatte, der erste gemeinsame Auftritt mit Luten Petrowsky, das 3:1 von Borussia Dortmund gegen Bayern München im Oktober 1995, „In the Garden“ von Van Morrison, „Das große Umlegen“ von Dashiell Hammett, der erste Nachmittag mit Peter Hacks auf seinem Landsitz, die Küsse von Ulrike Stöhring, der Kurzauftritt als Sänger mit Till Brönner und seiner Band.

Liebe, Musik und Poesie können den Menschen verändern und ihn größer machen. (Auch der Ballsport, wenn man ihn richtig betrachtet, zählt unbedingt ins Reich der Poesie.) 1997 erschien die erste CD der Hamburger Band FINK, „Vogelbeobachtung im Winter“. Das Album war eine Offenbarung, es riss, von der Öffentlichkeit eher unbemerkt, ganz mühe- und anstrengungslos, idiotische Grenzzäune um. Country-Musik, inspiriert gespielt und mit intelligenten deutschen Texten gesungen – plötzlich ging das. Sänger und Songschreiber Nils Koppruch machte es möglich, einfach so.

Die ersten Worte auf „Vogelbeobachtung im Winter“ gehen so: „Wo bist du gewesen, fragen die mich, die da warn, / und ich wär auch da gewesen, hätte ich es nur erfahrn / Die haben jetzt feine Anzüge an / und bedauern, dass ich nicht dabei sein kann.“ Dazu scheppert ein Beat, als wäre er zum ersten Mal in der Welt, roh, unbehauen, schleppend, wuchtig, dabei neugierig und grundgut, ungedemütigt.

Die Gitarre weint mit der Mundharmonika um die Wette, sehr oklahomamäßig und norddeutsch, stimmungsvoll und absolut würdig. Was für ein Debüt – nicht weniger groß als das des jungen Bob Dylan. Sorry, Rio-Reiser-Kitschfreunde: „Vogelbeobachtung im Winter“ ist bis heute, gemeinsam mit „Kairo Mond“ von Danny Dziuk, das beste deutschsprachige Album in der Kategorie Sänger/Songschreiber. Turn Schweine Sterben sind da weit außen vor.

Im Sommer 2001 lieh sich Kollege Jakob Arjouni vier FINK-Platten von mir aus. Einige Zeit später bekamen wir telefonisch leichten Krach, weil Arjouni meinte, er sei mit dem Kulturbetriebskriecher Feridun Zaimoglu befreundet – als ob ein Freund einer sein könne, der dem SPD-Strippenzieher und Geschaftelhuber Günter Grass zu Diensten ist. Na ja, nicht mein Problem. „Vogelbeobachtung im Winter“ bekam ich inzwischen auf anderen Kanälen wieder – dennoch gilt: Jakob Arjouni, rück die FINK-CDs raus! Die Dinge gehören den Menschen, die sie am nötigsten brauchen.

Das wusste schon Dashiell Hammett – und sollte sich also zu Arjouni, der bei Hammett teilweise wörtlich abgeschrieben hat, durchgesprochen haben.