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Archiv-Artikel

village voice Das neue Album des Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchesters

Rotz never sleeps

Viele Menschen hören auf zu trampen, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben. Vermutlich liegt es an den geänderten Voraussetzungen. Man hat einen Job, vielleicht eine Bahncard, ein eigenes Auto, ein hässliches Motorrad oder ist schon gebrechlich. Es kann aber auch daran liegen, dass man einfach nicht mehr darauf angewiesen sein möchte, je nach Entfernung von Berlin zwei bis sechs Stunden den Mist hören zu müssen, den der/die MitnehmerIn in der Autoanlage hat: die neue Marius Müller-Westernhagen. Paula. Meat Loaf. R.E.M. Rondo Veneziano. (Alles schon da gewesen).

Die neue CD des Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchesters wäre genau die Art von Tonträger, zu dem man den gnädigen Menschen überredet, der einen ins Auto gelassen hat und sich gerade anschickte, „Den Jungen mit der Gitarre“ einzulegen. „Hör dir das mal an, gefällt dir bestimmt.“ Dann schiebt man sie in den (stets schwer zu findenden) Auto-CD-Playerschlitz, und schon fiepen erwachsene Männer los: eine 60-sekundenlange Version von „The Man With The Golden Arm“ ist das Intro der Platte „Stille Tage in Rüsselsheim“. Und dann soll der gnädige Tramperfreund erst mal die Luft anhalten.

Nasenflöten, vielleicht wissen das nicht alle, sind kleine gebogene Plastikröhrchen mit einem Mund- und einem Nasenstück. Die Luft, die den Ton erzeugt, wird aus der Nase herausgeschnieft, die Lippen versuchen, am anderen Ende die Tonhöhe zu variieren. Ein bisschen klingen die Flöten wie diese Kinderpfeifen, deren Glissando man mit einem ausziehbaren Stab erzeugt. Nicht unähnlich einem gelehrigen Kanarienvogel auf Trip. Das Nasenflötenorchester, das sich auch Der Grindchor nennt, hat sich auf seiner neuen Platte schier ohnmächtig geschnauft: 19 Stücke, darunter eine über vierminütige Version von Led Zeppelins „Dazed and Confused“, die sich hundertmal anzuhören man eigentlich Jimmy Page zwingen müsste.

Wer die Nasenflöten schon einmal live gesehen hat, der weiß, wie viel körperliche Anstrengung in der Ton erzeugen Atemtechnik liegt. Die Männer schwitzen, haben die Augen in den roten Gesichtern geschlossen, rudern mit dem freien Arm, um ihre Ausdrucksstärke zu erweitern und die Balance zu halten, müssen viel Bier trinken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Wenn sie die Flöten absetzen, dann, um nach Luft zu schnappen oder umzukippen.

Im Gegensatz zu ihrer ersten, grandiosen Platte „Kuschelrotz“ ist „Stille Tage in Rüsselsheim“ ausgereifter, weniger popelig produziert, man hat keine Angst mehr, auch andere Instrumente begleitend hinzuzunehmen: Hermann Halb spielt auf zehn Stücken Gitarre, zum Beispiel bei „My Way“ (natürlich in der Sid-Vicious-Version) und dem „Harry Lime Thema“ aus dem dritten Mann, Brezel Göring orgelt bei „Je t'aime“ und „Happy Together“, Chilly Gonzales unterstützt „Holiday in Cambodia“ am Klavier. Und Harry Rowohlt darf sogar sprechen. Manchen Stücken tut die piepsige Version gut, manchen gibt sie überhaupt erst aufführungsreife Chuzpe: Hatte man „Goodbye my love“ nicht immer leichterhand als kitschigen Schlagermist abgetan? Nicht auf die wunderschönen Harmonien gehört, sich geweigert mitzugrölen?

Der neunköpfige Grindchor hat das Stück in genau den richtigen Zusammenhang gerotzt: in einen Zusammenhang mit einer Menge Taschentüchern.

JENNI ZYLKA

Das Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchester/Der Grindchor: „Stille Tage in Rüsselsheim“. Bei Zweitausendeins, 8,99 Euro