urdrüs wahre kolumne : Abgewrackt und angeschissen
In einem ziemlich kleinen Laden am O-Weg beobachte ich zufällig, wie sich ein etwas abgewrackt wirkendes Mädel einen Gegenstand im Wert von rund 30 Euro unter die Jacke steckt, weise sie in gebotener Diskretion auf die moralische Fragwürdigkeit dieses Verhaltens gegenüber dem werktätigen Inhaber des Geschäfts hin und fordere sie auf, den Artikel zurück zu stellen, was sie dann auch tut.
Minuten später begegne ich der vielleicht Zwanzigjährigen erneut in Höhe der Schauburg, diesmal in Begleitung eines Herrn, dem sie zuraunt: „Das ist der Typ, der mich eben angeschissen hat.“ Während ich noch überlege, ob ich zur Vermeidung von Handgreiflichkeiten die Straßenseite wechseln soll, steht er schon bei mir: „Eigentlich haste Recht, Alter. Man soll nur bei den Großen klauen. Aber es geht im Leben auch nicht immer so wie man möchte …“
Beide ziehen ihrer Wege und ich ahne: Irgendwie tun alle nur, was ihnen zu tun bestimmt ist!
Jedes kluge I-Dötzchen der Schule des Lebens weiß natürlich, dass sich Krieg nicht ohne dialektisch-materialistische Geschichtslehre erklären lässt und so sollte es auch die Marxistische Abendschule nicht bedrücken, dass die Schlaumeier und Besserwessis von der Landeszentrale für politische Bildung auf ihre Mitwirkung im Programm „60 Jahre 8. Mai“ verzichten. Nehmt’s als Anerkennung und Beleg der Aktualität des Marxismus, trotz alledem!
Nachdem ich vor Wochen die Vorladung der „Bagis“ zum Fordern & Fördern- Gespräch an einen früh vergreist-gebrechlichen Kumpel im Fast-schon- Rentenalter gelesen hatte und versuchte, mir die Umsetzung dieser Maßnahme konkret vorzustellen, wurde mir jäh die Sinnlosigkeit dieses Schwindelunternehmens bewusst.
Und ich dachte an all die klugen armen Menschen, die dort im Wissen um die Nichtigkeit ihres Tuns gesellschaftlich nützliche Arbeit simulieren müssen – zumindest so lange, bis ihnen über die Flucht in die Krankheit die Frühpensionierung ermöglicht wird. Verzaget nicht und haltet durch, bis auch offiziell die Arbeitsunfähigkeit begründbar ist!
Ein neues Hochregallager für die Post-Tochter DHL im Gewerbegebiet Hansalinie und das nur wegen dem Tchibo-Klimbim, das wohl die gelungenste Ausdrucksform spätkapitalistischer Warenstruktur darstellt: Man blättert in diesen Versandprospekten nicht, um womöglich das Bedürfnis nach einem bestimmten Produkt zu wecken und niemand kauft dort eine Pfanne.
Stattdessen geht man los, um zu schauen, ob man aus der Ramsch-Welt etwas gebrauchen könnte und wird gezwungen, über Verwendungszwecke für den gebotenen Krempel nachzudenken, der sich jede Woche als neue Welt einschleimt: Schon im alten Rom nutzte man die in den Hals geschobene Gänsefeder, um den Appetit auf Konsumieren jenseits jeder Sinnhaftigkeit immer neu zu entfachen: Wachstum setzt Kotzen voraus.
In dieser Woche aber spielte löblicherweise der Cellist Thomas Beckmann in Oldenburg Bach-Suiten zugunsten von Obdachlosen, während der senatorische Rotzlöffel Jens Eckhoff laut darüber nachdenkt, wie man Hartz IV- EmpfängerInnen mit Sozialamtshilfe durch Zwangsumsiedlung zum Subventionieren der Tenever-Sanierung missbrauchen kann, koste das auch was es wolle: Auch nach einem Rückbau bleiben die Wohntürme ja für Suizidal-Sprünge immer noch hoch genug. Schon wieder mal her mit der Gänsefeder!
Zwei hübsche Teenies schlendern eisleckender Weise an mir vorbei und die eine erzählt der anderen beiläufig: „Und dann hat der Kerl in der Disse die ganze Nacht immer Blondie zu mir gesagt und dabei bin ich doch gar nicht blond!“ War sie aber doch, hatte es vermutlich nur mal eben vergessen, erkannte jedenfalls ganz genau
Ulrich „Frühlingsbote“ Reineking