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Archiv-Artikel

unterm strich

Neuer Streit aus alten Mündern: Vor zweieinhalb Jahren ereiferten sich Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler über den japanischen Autor Haruki Murakami, die Untiefen des guten Geschmacks und die Tücken der erotischen Literatur. Was dazu führte, dass Löffler dem Literarischen Quartett den Rücken kehrte und die Zeitschrift Literaturen ins Leben rief. Jetzt haben die beiden Kritiker ein neues Sujet gefunden, sich zu erregen: die Kanon genannten Listen, die festlegen wollen, was des Lesens wert ist und was nicht. Marcel Reich-Ranicki hat sie gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegen Vorwürfe Löfflers verteidigt. Ein von Kritikern zusammengestellter Bücherkanon werde mit Sicherheit fragwürdig sein, schrieb Reich-Ranicki. „Aber ein fragwürdiger Kanon ist immer noch besser als Willkür und Beliebigkeit.“ Löffler wiederum hat solche Leselisten in der Januarausgabe des Buchhandelsmagazins Börsenblatt als „herrisches Gehabe der Bildungseiferer“ kritisiert. „Hinter der lesepädagogischen Drohgebärde stecken unverhohlen diktatorische Gelüste“, schrieb sie und klagte: „Kanon-Ratgeber sind geradezu inflationär.“

Reich-Ranicki hat im vergangenen Jahr den ersten von fünf Teilen der Reihe „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ zusammengestellt. Hellmuth Karasek legte wenig später seine Bücherliste vor. „Noch nie hat es ein so buntscheckiges Gewirr konkurrierender Leselisten gegeben“, schrieb Löffler, in Sorge, „Bildungssimulanten“ könnten daraus Nutzen schlagen. Reich-Ranicki hielt es derweil mit der Mädchenblüte: „Vielleicht wird die halbwüchsige Tochter, wenn sie zum ersten Mal verliebt ist, in dem Band mit Brecht-Gedichten blättern.“ Den der Vater zu Blendzwecken ins Regal gestellt hat.